Über Beziehung und Liebe
Frage: Sie sprechen über Beziehung, die darauf gründet, daß man einen anderen zur eigenen Befriedigung benutzt, und Sie haben oft einen Zustand angedeutet, den man Liebe nennt. Was meinen Sie mit Liebe?
Krishnamurti: Wir wissen, was unsere Beziehung ist – Befriedigung auf Gegenseitigkeit, obgleich wir das bemänteln, indem wir es Liebe nennen. Das, was man benutzt, behandelt man zart und si- chert es ab. Wir sichern unsere Grenzen, unsere Bücher, unseren Besitz. Wir sind in ähnlicher Weise darum bemüht, unsere Ehefrauen, unsere Familien, unsere Gesellschaft abzusichern, weil wir ohne sie einsam und verloren wären.
Ohne den Elternteil fühlt sich das Kind verlassen. Sie hoffen, daß Ihr Kind das einmal wird, was Sie nicht sind, also wird das Kind zu einem Instrument Ihrer Eitelkeit. Wir wissen, in welchem Verhältnis ein Bedürfnis und die Behandlungsweise stehen. Wir brauchen den Postboten und er braucht uns, aber wir behaupten nicht, daß wir den Postboten lieben.
Sehr wohl aber sagen wir, daß wir unsere Frauen und Kinder lieben, obgleich wir sie für unsere persönliche Befriedigung benutzen, und wir sind auch bereit, sie für die Eitelkeit, daß man uns patriotisch nennt, zu opfern. Dieser Prozeß ist uns nur allzu gut bekannt, und das kann unmöglich Liebe sein. Liebe, die benutzt, die ausbeutet und der es hinterher leid tut, kann nicht Liebe sein, denn Liebe ist keine Angelegenheit des Kopfes.
Nun wollen wir untersuchen und entdecken, was Liebe ist; entdecken und das nicht nur wörtlich, sondern indem wir diesen Zustand wahrhaftig erfahren. Wenn Sie mich als einen Guru benutzen und ich benutze Sie als meine Schüler, dann ist das gegenseitige Ausbeutung. Wenn Sie auf ähnliche Weise Ihre Frau und Kinder zu ihrer Unterstützung benutzen, ist das Ausbeutung. Ganz gewiß ist das keine Liebe. Wenn man benutzt, besitzt man auch. Besitz weckt unvermeidlich Angst, und mit der Angst kommen Eifersucht, der Neid, der Argwohn.
Wenn man benutzt, kann Liebe nicht sein; denn Liebe ist keine Sache des Kopfes. Wenn man an einen Menschen denkt, bedeutet das nicht, daß man ihn liebt. Sie denken an einen Menschen nur dann, wenn derjenige nicht anwesend ist, wenn er tot ist, wenn er davongelaufen ist, oder wenn er Ihnen nicht das gibt, was Sie wollen.
Dann setzt Ihre innere Unzulänglichkeit Ihren Denkprozeß in Gang. Wenn dieser Mensch Ihnen nahe ist, denken Sie nicht an ihn. An ihn zu denken, wenn er Ihnen nahe ist, heißt, daß Sie beunruhigt sind. Also nehmen Sie ihn als Selbstverständlichkeit – er ist da. Die Gewohnheit ist ein Mittel, um ruhig zu sein, so daß man Sie nicht stören kann. So wird man unvermeidlich unanfechtbar, wenn man jemanden benutzt -und das ist keine Liebe.
Was ist das für ein Zustand, wenn es keine Ausnutzung mehr gibt? Ausnutzung, die einen gedanklichen Hintergrund hat, der dazu dient, die innere Unzulänglichkeit im positiven oder negati- ven Sinn zu verbergen. Was für ein Zustand ist das, in dem das Gefühl der Befriedigung fehlt? Es liegt in der Natur des Verstandes, nach Befriedigung zu suchen. Sex ist eine Sinnesempfindung, die sich der Geist erschafft und vorstellt, und dann kommt es zur Handlung oder auch nicht. Hinter der Sinneswahrnehmung steht ein gedanklicher Prozeß, der keine Liebe ist. Wenn der Kopf dominiert und das Denken wichtig ist, gibt es keine Liebe.
Dieser ganze Prozeß der Benutzung, des Denkens, desVorstellens, des Festhaltens, des Einschließens, des Abstoßens, bildet Rauch, und wenn der Rauch abzieht, bleibt allein die Flamme der Liebe. Manchmal erfahren wir diese große, starke, ganze Flamme, aber der Rauch kommt zurück, weil wir nicht lange mit der Flamme leben können, die kein Gefühl von Nähe kennt, weder für den Einen noch für die vielen, weder persönlich noch unpersönlich. Die meisten von uns haben gelegentlich den Duft der Liebe und ihre Verletzlichkeit er- lebt, aber der Rauch des Benutzens, der Gewohnheit, der Eifersucht, des Besitzens, desVertrages und desVertragsbruchs – das alles ist für uns wichtig geworden, und deshalb gibt es die Flamme der Liebe nicht.
Wenn der Rauch da ist, fehlt die Flamme, aber wenn wir die Wahrheit des Gebrauchens verstehen, kommt die Flamme. Wir benutzen einen anderen, weil wir innerlich arm, unzureichend, trivial, klein und einsam sind, und wir hoffen, daß wir davon fliehen können, indem wir einen anderen benutzen. Auf ähnliche Weise benutzen wir Gott als Mittel zur Flucht. Die Liebe zu Gott ist nicht die Liebe zur Wahrheit. Sie können die Wahrheit nicht lieben. Die Liebe zur Wahrheit ist nicht ein Mittel zum Zweck, um etwas anderes, das Sie kennen, zu gewinnen, und deshalb gibt es immer die persönliche Angst, daß Sie etwas verlieren werden, was Sie kennen.
Sie werden die Liebe kennenlernen, wenn der Kopf sehr still ist und von seiner Suche nach Befriedigung undAuswegen frei ist. Zuerst muß derVerstand ganz still sein. DerVerstand ist die
Folge des Denkens, und das Denken ist nur ein Übergang, ein Zweckmittel. Wenn das Leben zu einem bloßen Übergang wird, wie kann es da Liebe geben? Die Liebe stellt sich ein, wenn derVerstand auf natürliche Weise still ist, nicht still gemacht worden ist, wenn er das Unwahre als unwahr erkennt und das Wahre als wahr. Wenn der Verstand still ist, dann ist alles, was geschieht, ein Akt der Liebe und nicht ein Akt des Wissens. Wissen ist nichts anderes als Erfahrung, und Erfahrung ist keine Liebe. Erfahrung kann nichts von Liebe wissen. Die Liebe entsteht, wenn wir unseren Gesamtprozeß verstehen. Es ist der Anfang derWeisheit, wenn wir uns selber erkennen.