Und ebenso müssen wir im Zusammenhang damit herausfinden, was Keuschheit ist. Jede Religion hat bislang verlangt, enthaltsam zu bleiben. Die Christen sprechen von der Heiligen Jungfrau, und die Buddhisten haben auch irgend so eine Geschichte über den Buddha, weil sie nicht wollen, dass Sex mit Religion in Verbindung gebracht wird. Und dennoch brennen Priester vor Verlangen. Also wird von ihnen gefordert, keusch zu leben. Und sie legen das Gelübde des Zölibats ab.
Und was ist Keuschheit? Ist sie da drinnen, in ihrem Herzen, in ihrem Geist? Oder bezieht sie sich lediglich auf den Akt? Was ist nun der Zölibat? Ist die Handlung oder der Geist keusch? Der Geist ist keusch, was einen außerordentlich einfachen Geist bedeutet – aber nicht einfach im Sinne von Strenge und im Sinne rücksichtsloser Anerkennung eines Prinzips –, einen Geist, der sich kein Bild von der Frau, von dem Mann oder der Handlung macht, keine dieser Vorstellungen macht.
A. W. Anderson: Das ist sehr wesentlich. Ich weiß, dass ich in unseren Gesprächen immer wieder Dinge erwähne, die ich gelesen und studiert habe, weil ich damit den größten Teil meines Lebens beschäftigt war. Und was mich so tief berührt, wenn ich Ihnen zuhöre, ist, dass so viele Dinge, die im Laufe von Jahrhunderten gesagt und geschrieben wurden, eigentlich in dem Sinne hätten verstanden werden sollen, wie Sie sie darstellen. In der Tradition der christlichen Theologie heißt es sogar, dass der Fall des Menschen mit der Vorstellung begann. Und dennoch scheint mir dieses nicht korrekt verstanden worden zu sein. Denn wäre es das, befänden wir uns nicht in diesem immensen Konflikt.
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Krishnamurti: Die Christen haben zuerst die Sünde und all das erfunden. Kann also der Geist keusch sein? Und nicht: Kann der Geist das Gelübde auf den Zölibat ablegen trotz glühenden Verlangens. Neulich sprachen wir über Verlangen. Wir brennen vor Verlangen. All unsere Drüsen sind voll davon. Keuschheit bedeutet also einen Geist, der an keiner Verletzung trägt, der kein Bild, keinerlei Vorstellung von sich selbst und seinem Verlangen hat. Kann solch ein Geist in dieser Welt existieren? Andernfalls gibt es keine Liebe. Ich kann endlos über Liebe zu Jesus, Liebe zu diesem, Liebe zu jenem sprechen, aber es wird so schäbig.
Ist Liebe also Vergnügen? Ich kann nur sagen, dass sie es nicht ist, wenn ich verstanden habe, was Vergnügen ist, und nicht nur verbal verstanden, sondern tiefinnerlich, seine Natur gesehen habe, seine Brutalität, seine trennende Wirkung. Denn Vergnügen ist immer trennend. Sich-Erfreuen und Freude schaffen niemals Uneinigkeit. Nur das Vergnügen schafft Uneinigkeit. Hören sie einem Araber zu, wenn er über Öl spricht, es ist sein ganzer Stolz. Sie sehen es ihm an, und Sie sehen es den Ministern, den Politikern an, diese Arroganz, diese Macht.
Und gleichzeitig sprechen sie von Liebe, von Liebe zu meinem Land, und meine Liebe wird dich töten. Wir müssen auch dieses Töten verstehen. Die westliche Zivilisation hat das Töten zu einer perfekten Kunst, und den Krieg zu einer Wissenschaft gemacht. Sie haben es die ganze Welt gelehrt. Und wahrscheinlich sind die Christen nach den Muslims die größten Mörder. Ich glaube, die ersten aufrichtigen religiösen Buddhisten waren wirkliche Nicht-Mörder. Sie sagten: Töte nicht.
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Ich muss Ihnen diese reizende Geschichte erzählen. Ich war vor einigen Jahren in Ceylon, und ein buddhistisches Paar besuchte mich. Sie sagten, sie seien praktizierende Buddhisten, sie würden nicht töten, aber sie äßen Fleisch. Ich fragte: »Wie meinen Sie das?« Er antwortete: »Wir wechseln unsere Schlachter, darum sind wir nicht verantwortlich, und wir mögen Fleisch.« Ich fragte: »Ist das Ihre Frage an mich?« Er antwortete: »Nein, überhaupt nicht. Unser Problem ist: Sollten wir ein befruchtetes Ei essen, es erhält doch Leben?«
Wenn wir also über Liebe sprechen, müssen wir auch über Gewalt und Töten sprechen. Wir töten, wir haben die Erde zerstört, wir haben die Erde verschmutzt. Wir haben Tier- und Vogelarten ausgelöscht, wir töten Seehundbabies, haben Sie das im Fernsehen gesehen? Wie kann ein Mensch so etwas tun? Damit irgendeine Frau diesen Pelz anziehen kann. Und der Mörder kommt nach Hause und sagt: »Ich liebe meine Frau.«
Wir werden zum Töten erzogen. All die Generale bereiten endlos Methoden vor, um andere zu töten. Das ist unsere Zivilisation. Und kann ein Mann, der ehrgeizig ist, lieben? Nein. Darum Schluss mit dem Ehrgeiz. Aber die Menschen werden damit nicht Schluss machen, denn sie wollen beides. Also, töte nicht, unter gar keinen Umständen, töte kein Tier, um zu essen. Ich habe niemals in meinem Leben Fleisch gegessen, ich weiß nicht, wie es schmeckt. Nicht, dass ich darauf stolz wäre oder so etwas, aber ich könnte es nicht. Töten ist zu einer Industrie geworden. Tiere töten, um Menschen zu füttern.