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Freiheit

Was ist Freiheit?

Aber zunächst wollen wir uns fragen, ob wir wirklich frei sein möchten. Wenn wir über Freiheit sprechen, meinen wir dann die totale Freiheit oder nur die Freiheit von etwas, das uns unbequem oder unangenehm oder unerwünscht ist?

Weder die Qualen der Unterdrückung noch die gewaltsame Disziplin der Anpassungan ein Vorbild haben zur Wahrheit geführt. Um die Wahrheit zu finden, muß der Mensch vollkommen frei sein ohne die geringste Verzerrung oder Verkrampfung.

Wir würden gerne von schmerzlichen und häßlichen Erinnerungen und traurigen Erfahrungen frei sein; aber unsere angenehmen, befriedigenden Ideologien, Formeln und Beziehungen möchten wir behalten. Es ist aber unmöglich, die einen ohne die anderen zu bewahren, denn, wie wir gesehen haben, ist die Freude vom Leid nicht zu trennen.

So muß sich jeder von uns entscheiden, ob er vollkommen frei zu sein wünscht oder nicht. Wenn wir sagen, daß wir frei sein wollen, dann müssen wir das Wesen und die Struktur der Freiheit verstehen.

Ist es Freiheit, wenn…

Ist es Freiheit, wenn Sie von etwas frei sind – frei von Leid, frei von irgendeiner Angst? Oder ist Freiheit etwas völlig anderes?

Sie können frei von Eifersucht sein, wollen wir einmal annehmen; aber ist diese Freiheit nicht eine Reaktion und daher überhaupt keine Freiheit?

Sie können sich sehr leicht von einem Dogma lösen, indem Sie es analysieren, indem Sie es abstoßen; aber diese Loslösung ist die Auswirkung eines Motivs, das darin bestehen mag, daß Sie von dem Dogma frei sein wollen, weil es nicht mehr modern oder zweckdienlich ist. Oder Sie können vom Nationalismus frei sein, weil Sie an den Internationalismus glauben oder weil Sie empfinden, daß es wirtschaftlich nicht länger notwendig ist, an diesem törichten nationalistischen Dogma mit seiner Flagge und dem ganzen Unsinn zu hängen. Davon können Sie sich leicht trennen. Oder Sie mögen sich gegen einen spirituellen oder politischen Führer entscheiden, der Ihnen Freiheit als Ergebnis von Disziplin oder Revolte versprochen hat.

Hat aber eine solche vernünftige Überlegung, solche logische Schlußfolgerung irgend etwas mit Freiheit zu tun?

Ist Freiheit eine Reaktion?

Wenn Sie sagen, daß Sie von etwas frei sind, ist das eine Reaktion, aus der dann eine andere Reaktion folgt, mit einer anderen Anpassung, einer anderen Form der Hörigkeit. In dieser Art können Sie eine Kette von Reaktionen haben und jede Reaktion für Freiheit halten. Aber es ist keine Freiheit, es ist nur die Fortsetzung einer modifizierten Vergangenheit, an der der Verstand festhält. Die Jugend von heute empört sich wie jede Jugend gegen die Gesellschaft.

Das ist an sich etwas Gutes, aber Aufruhr ist keine Freiheit, denn wenn Sie revoltieren, ist das eine Reaktion, und diese Reaktion stellt ihr eigenes Modell auf, darin Sie hängen bleiben. Sie glauben, daß es etwas Neues sei. Es ist aber nichts Neues; es ist das Alte in einer anderen äußeren Form. Jeder soziale oder politische Aufstand wird unvermeidlich in die gute alte Denkungsart bürgerlicher Gesinnung zurückfallen.

Freiheit kommt nur, wenn Sie sehen und handeln – niemals durch Revolte. Das Sehen ist Handeln, und eine solche Handlung ist so unmittelbar, wie wenn Sie eine Gefahr wahrnehmen. Dann wird nicht das Gehirn eingeschaltet, und es gibt keine Diskussion, kein Zögern; die Gefahr erzwingt die Handlung, und dann ist Sehen, Handeln und Freiheit eines.

Ist Freiheit ein Geisteszustand?

Freiheit ist ein Zustand des Geistes – nicht die Freiheit von etwas, sondern das Gefühl der Freiheit, der Freiheit, alles anzuzweifeln und in Frage zu stellen, und zwar so intensiv, aktiv und kraftvoll, daß sie jede Art von Abhängigkeit, Sklaverei, Anpassung und Anerkennung von sich wirft. Solche Freiheit bedeutet, völlig allein zu sein.

Aber kann der Mensch, der in einer Kultur aufgewachsen ist, die so bedingt ist durch die Umwelt und innere Tendenzen, jemals diese Freiheit finden, in der er vollkommen allein steht und in der es keine Führerschaft, keine Tradition, keine Autorität gibt?

Diese Abgeschiedenheit ist ein innerer Zustand des Geistes, der von keinem Anreiz und keinem Wissen abhängig ist und der nicht das Ergebnis einer Erfahrung oder einer gedanklichen Festlegung ist. Die meisten Menschen sind innerlich niemals allein. Es besteht ein Unterschied zwischen Isolierung, in der man sich selbst absondert, und dem Alleinsein, das eine innere Abgeschiedenheit ist. Wir alle wissen, was es bedeutet, isoliert zu sein, eine Mauer um sich zu errichten, um niemals verletzt zu werden, niemals angreifbar zu sein, oder eine Unabhängigkeit zu züchten, die eine andere Form seelischer Angst ist, oder in dem traum erfüllten Elfenbeinturm einer Ideologie zu leben. Alleinsein ist etwas ganz anderes.

Allein sein heißt nicht einsam sein

Sie sind niemals allein, weil Sie mit Erinnerungen aus der Vergangenheit angefüllt sind, mit den Gestalten und den Einflüsterungen des gestrigen Tages. Ihr Geist ist niemals frei von dem ganzen Plunder, den er angesammelt hat. Um allein zu sein, müssen Sie sich von der Vergangenheit Iossagen. Wenn Sie allein sind, vollkommen allein, innerlich zu keiner Familie, keiner Nation, keiner Kultur, keinem bestimmten Kontinent gehören, entsteht das Gefühl, ein Außenseiter zu sein. Der Mensch, der in dieser Art vollkommen allein ist, ist unschuldig, und diese Unschuld ist es, die den Menschen vom Leid befreit.

Ich bin die Meinung eines anderen darüber, was ich bin

Was unzählige Menschen gesagt haben, tragen wir als Last mit uns herum, und dazu die Erinnerungen an alles Mißgeschick. Das alles völlig aufzugeben, heißt allein zu sein, und der Mensch, der innerlich allein ist, ist nicht nur unschuldig, sondern auch jung – nicht in bezug auf Zeit und Alter, sondern unabhängig von jedem Alter ist er jung, unschuldig, lebendig – , und nur ein solcher Mensch kann die Wahrheit sehen und das, was nicht mit Worten zu ermessen ist.

In dieser Abgeschiedenheit werden Sie anfangen zu verstehen, wie notwendig es ist, daß Sie so leben, wie Sie sind – nicht wie Sie glauben sein zu müssen oder wie Sie gewesen sind. Sehen Sie zu, ob Sie sich ohne jede Erregung betrachten können, ohne falsche Bescheidenheit, ohne jede Furcht, ohne Rechtfertigung oder Verurteilung – leben Sie einfach mit sich, so wie Sie tatsächlich sind.

Es fordert Leidenschaft

Nur wenn Sie sich innig mit etwas befassen, beginnen Sie es zu verstehen. Aber in dem Augenblick, da Sie sich daran gewöhnen – sich an Ihre Angst oder Ihren Neid oder, was es sonst sein mag, gewöhnen – , hat der lebendige Kontakt aufgehört. Wenn Sie an einem Fluß leben, hören Sie nach einigen Tagen nicht mehr das Geräusch des Wassers, oder wenn Sie ein Bild im Zimmer haben, das Sie alle Tage sehen, beachten Sie es nach kurzer Zeit nicht mehr. Es ist das gleiche mit den Bergen, den Tälern, den Bäumen, mit Ihrer Familie, Ihrem Ehemann, Ihrer Ehefrau. Um mit etwas zu leben, zum Beispiel mit der Eifersucht, dem Neid oder der Angst, dürfen Sie sich nicht daran gewöhnen, sich niemals damit abfinden.

Sie müssen sich darum mühen, wie Sie sich um einen neu gepflanzten Baum sorgen würden, den Sie gegen die Sonne, gegen den Sturm schützen. So müssen Sie an den inneren Vorgängen interessiert sein, sie nicht verurteilen oder rechtfertigen; darin beginnen Sie, sie zu lieben. Wenn Sie um etwas besorgt sind, beginnen Sie, es zu lieben. Nicht, daß Sie es lieben, neidisch oder bekümmert zu sein, wie es bei vielen Menschen der Fall ist, sondern daß Sie voller Achtsamkeit darauf hinschauen.

Können Sie nun – können Sie und ich – mit dem leben, was wir tatsächlich sind, mit dem Wissen, daß wir träge, neidisch, ängstlich sind, daß wir große Zuneigung zu haben glauben, die gar nicht vorhanden ist, daß wir leicht verletzbar, leicht geschmeichelt und gelangweilt sind – können wir damit leben, ohne es hinzunehmen, ohne uns damit abzufinden oder es abzulehnen, sondern es einfach betrachten, ohne morbid, bedrückt oder hochmütig zu werden?

Ist Freiheit ein „Prozess“?

Wir wollen uns eine weitere Frage stellen. Können wir zu dieser Freiheit, dieser Abgeschiedenheit durch die Zeit gelangen?

Kann uns die Zeit dazu verhelfen, mit dem Gesamtgefüge unserer inneren Natur in Kontakt zu kommen?

Das heißt: Kann Freiheit durch einen allmählich fortschreitenden Prozeß erreicht werden?

Offensichtlich nicht, denn sobald Sie die Zeit zulassen, versklaven Sie sich immer mehr. Sie können nicht allmählich frei werden. Es ist keine Frage der Zeit.

Wann bin ich frei?

Die nächste Frage ist, ob Sie sich dieser Freiheit bewußt werden können. Wenn Sie sagen: »Ich bin frei«, dann sind Sie nicht frei. Es ist so, als ob ein Mensch sagt: »Ich bin glücklich.« In dem Augenblick, da er das sagt, lebt er in der Erinnerung an etwas, das vorbei ist. Freiheit kann nur ungezwungen entstehen, nicht durch Wollen, Wünschen, Sehnen.

Sie können die Freiheit auch nicht dadurch finden, daß Sie sich ein Bild von dem schaffen, was Sie für Freiheit halten. Um zur Freiheit zu gelangen, muß der Mensch lernen, ohne die Fessel der Zeit auf das Leben zu schauen, das eine unendliche Bewegung ist; denn Freiheit liegt jenseits des Bewußtseinsraumes.

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