Was bedeutet Zuhören – Ich glaube, dass es nötig ist zu entdecken, was Zuhören bedeutet. Wir werden uns jetzt mit etwas befassen, das Ihre Aufmerksamkeit erfordert, keine intellektuelle Aufmerksamkeit, sondern die Aufmerksamkeit des Zuhörens, eines Zuhörens, das nicht nur dem gesprochenen Wort gilt, sondern dem, was in Wahrheit in Ihnen vorgeht.
So zuzuhören, dass Sie dabei beobachten, die Fähigkeit Ihres Geistes beobachten, der sich diesen schwierigen Daseinsproblemen gegenübersieht. Sie sollten dabei nichts interpretieren, dann hören Sie nämlich nicht zu. Das Zuhören ist ein Akt des Gewahrseins, in dem es keine Interpretation, keinen Vergleich gibt, wenn Sie sich an Dinge erinnern, die Sie gelesen haben und sie mit dem hier vergleichen, oder wenn Sie Ihre eigenen Erfahrungen mit dem hier Gesagten vergleichen. Das sind alles Ablenkungen.
Das bedeutet, dass man ganz zuhört, ohne dabei Widerstand zu leisten, ohne den Versuch, eine Antwort zu finden, weil Antworten das Problem nicht lösen. Die vollständige Lösung eines Problems ist nur möglich, wenn man ohne den Beobachter, der vergangene Erfahrung, Erinnerung und Wissen ist, beobachten kann – nur beobachten. Dann können wir damit beginnen zu entdecken, was Leid ist und ob sich der menschliche Geist jemals davon befreien kann. Es ist sehr wichtig, dass man selber entdeckt, ob das Leid je enden kann – wirklich, nicht verbal, nicht intellektuell, nicht romantisch oder sentimental. Denn wenn es endet, wird der Geist von einer kolossalen Last befreit, und diese Freiheit benötigt man, um zu erforschen, was Liebe eigentlich ist.
Schmerz, Kummer und Leid
Was also ist Leid, und hat das jemals ein Ende? Das ist wirklich ein ganz tiefes Problem. Ich weiß nicht, ob Sie sich dem schon neugierig zugewendet haben, ob Sie es ernsthaft unternommen haben zu entdecken, was es ist und ob Ihr Geist, d. h. der menschliche Geist, es jemals überwinden kann. Wir müssen entdecken, was Schmerz, Kummer und Leid sind. Es gibt den körperlichen und auch den psychologischen Schmerz: Leiden, Schmerzen im Körper, im Organismus und dann die große Vielfalt des inneren Schmerzes, Kummers und Leidens, sozusagen unter der Haut im Psychischen.
Wir alle kennen körperlichen Schmerz, den großen oder den kleinen, und wir können damit medizinisch und auf andere Weise umgehen. Man kann den Schmerz mit einem Geist beobachten, der nicht verhaftet ist, mit einem Geist, der fähig ist, den körperlichen Schmerz wie von außen zu beobachten. Man kann die eigenen Zahnschmerzen beobachten, ohne dabei emotional oder psychisch beteiligt zu sein. Wenn man emotional oder psychisch an dem Zahnschmerz beteiligt ist, nimmt der Schmerz zu, und man wird schrecklich besorgt und ängstlich. Ich weiß nicht, ob Sie diese Tatsache schon bemerkt haben.
Der Schlüssel liegt darin
Der Schlüssel liegt darin, sich der körperlichen, physiologischen, biologischen Schmerzen bewusst zu sein und in dem Gewahr werden, sich psychologisch nicht daran zu beteiligen. Es gilt, sich des körperlichen Schmerzes bewusst zu sein und gleichzeitig der psychologischen Beteiligung, welche den Schmerz intensiviert und Besorgnis und Angst weckt, und dabei den psychologischen Faktor auszuklammern. Das erfordert enorme Achtsamkeit, die Fähigkeit einer gewissen Zurückhaltung, die Fähigkeit der unbeteiligten Beobachtung. Dann entstellt der Schmerz nicht die geistigen Prozesse. Dann führt der physische Schmerz nicht zu neurotischer Aktivität des Gemüts. Ich weiß nicht, ob Sie bemerkt haben, wie der Kopf bei großen Schmerzen, die er nicht beseitigen kann, in diesen Schmerz verwickelt wird, so dass die gesamte geistige Lebensanschauung dabei verzerrt wird.
Das Gewahr werden dieses ganzen Prozesses ist keine Angelegenheit des Willens, keine Angelegenheit einer Schlussfolgerung oder eine, bei der man sagt, dass man wachsam sein muss. Sonst rufen sie damit eine Teilung hervor und daher vermehrten Konflikt. Wenn Sie dagegen intelligent den Schmerzvorgang und die psychologische Beteiligung an diesem Schmerz sowie die Entstellung im Handeln und Denken beobachten, dann kann man mit dem körperlichen Schmerz ganz vernünftig umgehen und auf ihn einwirken.
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Doch was nicht einfach, sondern ziemlich schwierig ist, ist der gesamte Bereich psychologischer Schmerzen sowie von Kummer und Leiden. Das erfordert viel mehr, viel genauere Untersuchung, engere Beobachtung und Ergründung. Wir Menschen werden – wo immer wir auch sind – von Kindheit an verletzt. Wir haben so viele uns bewusste und unbewusste Narben, es gibt so viele Formen der Verletzung. Wir vergießen Tränen, offene oder geheime, und wollen aus dieser Verletzung heraus andere treffen, was eine Form von Gewalt ist.
Da man uns verletzt hat, errichten wir eine Mauer um uns herum, damit man uns nie wieder verletzt; und wenn man eine Mauer um sich herum errichtet, damit man nicht mehr verletzt wird, wird man nur noch mehr verletzt. Weil man uns zum gegenseitigen Vergleich, zu Nachahmung und Anpassung gezwungen hat, haben wir seit der Kindheit die vielen großen Kränkungen aufbewahrt, doch da wir uns dessen nicht bewusst sind, wird unsere gesamte Aktivität zu Reaktionen, die auf diesen Kränkungen gründen.
Untersuchen wir das hier gemeinsam? Wenn Sie nicht bloß auf das hören, was der Redner sagt, sondern wenn Sie diese Worte verwenden, um sich selber zu erkennen, dann sind Sie mit dem Sprecher in Kommunikation.
Können diese Kränkungen, die alle Arten von Aktivität, wie Unausgeglichenheit, Neurosen oder Ausflüchte hervorbringen, ausgelöscht werden, so dass der Kopf wirksam, genau, gesund und heil funktionieren kann? Das ist eines der Probleme des Leidens. Man hat Sie verletzt, und ich bin sicher, dass das jedem widerfahren ist. Das ist Teil unserer Kultur, es ist Teil unserer Erziehung. In der Schule sagt man Ihnen, dass Sie so gut wie „A“ sein müssen, dass sie bessere Zensuren bekommen müssen. Man sagt Ihnen, dass Sie nicht so gut sind wie Ihr Onkel oder so klug wie Ihre Großmutter.
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Das ist der Anfang; und man behandelt sie mit dieser Art von Vergleich immer brutaler, nicht nur im Äußeren, sondern sehr tief im Inneren. Wenn Sie diese Kränkungen nicht auflösen, werden Sie durch das Leben gehen mit dem Wunsch, andere zu kränken oder gewalttätig zu werden, oder Sie werden sich vom Leben, aus jeder Beziehung zurückziehen, damit man Ihnen nie wieder weh tun kann.
Da das ein Teil unseres Leidens ist, kann sich der so verletzte Geist ganz von jeder Form der Kränkung befreien und niemals mehr verletzt werden? Ein Geist, der unverwundbar ist und nie mehr verletzt werden kann, ist wirklich ein unschuldiger Geist, das ist der Sinn des Wortes gemäß dem Wörterbuch – ein Geist, der unverwundbar ist – und der deshalb unfähig ist, andere zu verletzen. Wie kann nun ein Geist, der zutiefst oder beiläufig verletzt worden ist, von dieser Kränkung frei werden?
Wie beantworten Sie diese Frage? Wie entdecken Sie, wenn Sie sich der Kränkung bewusst sind, wie Sie sich von dieser Verletzung befreien können? Wenn Sie eine einzige Verletzung ganz, tief, vollständig verstanden haben, dann haben Sie auch alle anderen Verletzungen verstanden, denn in der einen sind alle anderen eingeschlossen, man muss nicht einer Verletzung nach der anderen nachjagen.
Warum wird der Geist verletzt?
Warum wird der Geist verletzt? Alle Formen der Erziehung, wie es sie heute gibt, sind geistige Entstellungsprozesse mittels Wettbewerb und Konformität in den Schulen und in der Familie in allen unseren äußeren Beziehungen. Der Wille, nicht verletzt zu werden, ist eine Schlussfolgerung des Verstandes, aber der Verstand, der Zeit und Bewegung ist, der Gedanke, der sich die Vorstellung macht, nie wieder verletzt zu werden – hat dieses Problem nicht gelöst.
Also kann der Verstand die Kränkung nicht auflösen. Hören Sie bloß zu, was der Sprecher zu sagen hat. Machen Sie es sich zu eigen, trinken Sie es, entdecken Sie es. Der Verstand kann unmöglich diese Kränkungen auflösen, und das ist das einzige Instrument, das uns zur Verfügung steht, das ist das einzige Instrument, das wir so sorgfältig entwickelt haben, und wenn wir dieses Instrument nicht zur Anwendung bringen können, fühlen wir uns verloren. Nicht wahr?
Wenn Sie jedoch erkennen, dass der Verstand, die ganze Denkmaschinerie in keiner Weise dieses Problem der Kränkungen lösen wird, dann beginnt die Intelligenz zu arbeiten – die Intelligenz, die weder Ihnen noch mir noch irgend jemand anderem gehört. Die Analyse wird die Kränkungen nicht auflösen. Analyse ist eine Form der Lähmung und kann nicht die Kränkungen auflösen. Was bleibt Ihnen also? Sie erkennen ganz genau, dass man Sie gekränkt hat und weder der Verstand noch die Analyse das aufheben können. Was geschieht im Geist, wenn man die Wahrheit des Denkvorganges erkannt hat, mit allen seinen Assoziationen? Es ist der Gedanke, der sich das Bild von Ihnen erschaffen hat, und dieses Bild ist verletzt worden.
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Wenn also der Geist erkennt, dass die Aktivitäten des Verstandes, mit allen Bildern, Maßnahmen und der Analyse, die Kränkung nicht auflösen können, dann schaut der Geist bewegungslos die Kränkung an. Wenn er das im Ganzen auf die Art beobachtet, wie wir es jetzt beschrieben haben, wird er erkennen, dass jede Form der Kränkung ganz verschwindet. Denn die Kränkung ist das Bild, das Sie von sich haben, und dieses Bild hat sich der Verstand gemacht.
Das, was verletzt wurde, ist das Bild, und dieses Bild ist unwirklich. Es ist ein Wortgebilde, ein Sprachgebilde, das vom Verstand genährt wird, und wenn die Denkkraft nicht aktiv ist, dann gibt es kein Bild. Dann gibt es auch keine Möglichkeit mehr, je wieder verletzt zu werden. Haben Sie das erfasst? Wenden Sie es an, nicht morgen – jetzt!
Ursachen des Leidens
Das ist eine der Ursachen des Leidens. Es gibt das Leid der Einsamkeit, das Leid, keinen Gefährten zu haben – oder wenn Sie einen Gefährten haben, diesen zu verlieren – oder der Tod eines Menschen, den Sie zu lieben glaubten, der Sie körperlich und seelisch befriedigte, beide sind sinnliche Befriedigungen und psychologische Erfüllungen. Wenn dieser Mensch nicht mehr da ist, d. h. wenn dieser Mensch gestorben ist oder sich von Ihnen abgewendet hat, brechen alle Besorgnisse, die Ängste, die Eifersüchteleien, die Einsamkeit, die Verzweiflung, die Wut und die Gewalt in Ihnen auf.
Das ist Teil unseres Lebens. Da wir das nicht lösen können, sagt man in Asien: „Im nächsten Leben, mein Freund, werden wir das lösen. Schließlich gibt es immer ein nächstes Leben, dann werde ich wissen, wie ich damit umgehen muss.“ Im Westen verdrängt man das Leiden in einen Menschen oder in ein Bild, das man anbetet – das Leiden der Menschheit wird in ein Individuum projiziert, wodurch man auch wieder flieht, aber dadurch wird das Problem nicht gelöst. Sie zögern das hinaus, Sie haben es in einem Bild auf einem Kreuz in einer Kirche dargestellt. Aber es ist nach wie vor da.
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Das Leid kann also nur dadurch enden, dass Sie Ihre eigenen Vorgänge verstehen; wie Sie davor fliehen möchten; wie Sie eine Antwort darauf finden möchten; und da Sie keine Antwort finden, wie Sie in den Glauben fliehen, in Vorstellungen, in Konzepte. So handeln die Menschen von Alters her; und es gibt immer die Priester, die Mittler, die Ihnen zur Flucht verhelfen werden. Es erfordert große Aufmerksamkeit, das alles in sich selber zu beobachten.
Und das ist Selbsterkenntnis – nicht nach irgendeinem modernen oder alten Psychologen, sondern durch bloße Eigenbeobachtung. Die Kränkungen, die Ausflüchte, die Einsamkeit, die Verzweiflung, das Gefühl der Qual niemals über das „was ist“ hinauszukommen, das alles ohne irgendeinen Denkvorgang nur zu beobachten, erfordert enorme Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit an sich ist Disziplin, hat ihre eigene Ordnung.
Können Sie die Einsamkeit beobachten, die eine der Faktoren unseres Leidens ist oder aber das Gefühl, das Sie sich irgendwie erfüllen müssen und dazu nicht fähig sind, ohne dabei frustriert zu sein, – beobachten Sie das alles ohne einen verbalen, Verstandesmäßigen Vorgang oder den Wunsch, es zu überwinden? Lassen Sie es mich anders sagen: Ich verliere meinen Bruder oder meinen Sohn. Er stirbt, und ich bin tagelang durch den Schock gelähmt. Danach bin ich schließlich Schmerz, Einsamkeit und Leid über die Sinnlosigkeit des Lebens. Ich bin verlassen.
Ich bleibe also ganz ohne irgendeinen Gedanken, der sagt: „Ich muss das überwinden, ich muss meinen Bruder finden, ich muss mit ihm in Verbindung treten, ich fühle mich einsam, ich fühle mich verzweifelt.“ Man sollte ohne irgendeinen Gedanken nur beobachten. Danach werden Sie sehen, dass aus diesem Leiden Leidenschaft wird, was nichts mit Lust zu tun hat, die eine Energie ist, die nichts mit dem Verstand zu tun hat und frei von Denkvorgängen ist.
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Also durch – nein, ich werde das Wort „durch“ nicht verwenden. Also in diesem Gewahr werden der Gesamtvorganges, der das „Ich“ bildet, welches ein Verstandesprodukt, eine Bewegung in der Zeit ist, in diesem Gewahr werden der bewussten und unbewussten Struktur des „Ich“ hört das Leiden auf. Sie können das selber testen. Wenn Sie das nicht testen, haben Sie kein Recht, dem zuzuhören, weil es sinnlos ist. Das Leid endet durch Selbsterkenntnis, und damit beginnt die Weisheit.
Was ist Liebe?
Nun wollen wir uns mit der nächsten Frage befassen und überlegen, was Liebe ist. Ich weiß wirklich nicht, was sie ist. Man kann sie beschreiben, man kann sie in Worte fassen, man kann sie in wunderbarer Poesie ausdrücken, indem man sehr schöne Worte verwendet, aber Worte sind keine Liebe. Gefühl ist nicht Liebe. Sie hat nichts mit Emotionen, mit Patriotismus oder mit Ideen zu tun. Das wissen Sie sehr gut, wenn Sie sich damit beschäftigt haben. Wir können also die Wortbeschreibungen ganz weglassen, die Bilder beiseite schieben, die wir um dieses Wort herum aufgebaut haben: Patriotismus, Gott, Arbeit für Ihr Land und die Queen – Sie kennen diesen ganzen Unsinn!
Wir wissen auch, falls wir sehr genau beobachten, dass Vergnügen nicht gleich Liebe ist. Können Sie diese Pille schlucken? Für die meisten von uns ist Liebe sexuelles Vergnügen. Den meisten unter uns im Westen ist dieses Gefühl von sexuellem, körperlichem Vergnügen sehr wichtig, und jetzt drängt es in die östlichen Zivilisationen. Wenn es nicht erfüllt werden kann, gibt es Qual, Gewalt, Brutalität, riesige emotionale Szenen. Ist das alles Liebe?
Das Vergnügen des sexuellen Aktes und die Erinnerung daran -dieses Wiederkäuen und der Wunsch, es wieder zu bekommen, die Wiederholung, die Jagd nach dem Vergnügen, das nennt man Liebe. Wir haben dieses Wort so vulgär, so bedeutungslos gemacht. Geht hin und tötet für die Liebe zu Eurem Land; tretet irgendeiner Sekte bei, weil sie Gott lieben! Wir haben aus dem Wort etwas Schreckliches gemacht – eine hässliche, vulgäre, brutale Angelegenheit. Das Leben ist soviel größer, weiter, tiefer als bloßes Vergnügen, aber diese Zivilisation, diese Kultur hat aus dem Vergnügen die beherrschende, mächtigste Sache des Lebens gemacht. Was ist also Liebe? Welchen Platz nimmt sie in der menschlichen Verbindung zwischen Mann und Frau ein?
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Wir wollen überlegen, was die Liebe in der menschlichen Beziehung ist. Wenn Sie die Landkarte der Menschen betrachten -Mann, Frau, Mann und Frau in Verbindung mit ihrem Nachbar, mit dem Staat und allem übrigen – welchen Platz nimmt da die Liebe in der Beziehung ein? Hat sie in der Wirklichkeit überhaupt irgendeinen Platz? Das Leben ist Beziehung, das Leben ist Handeln in Beziehungen. Welchen Platz hat die Liebe in Verbindung mit diesem Handeln?
Untersuchen wir das hier zusammen? Bitte, tun Sie es, es ist Ihr Leben. Verschwenden Sie Ihr Leben nicht. Sie haben ein paar Jahre, verschwenden Sie sie nicht. Sie sind dabei, sie zu verschwenden, und es ist traurig, das mit anzusehen.
Also welchen Platz nimmt die Liebe in der Beziehung ein? Was ist Beziehung, was heißt das, eine Beziehung zu haben? Es heißt, angemessen, vollständig auf einander zu reagieren. Die Bedeutung dieses Wortes Beziehung ist: verbunden (verwandt) zu sein; verbunden bedeutet in direktem Kontakt mit einem anderen Menschen zu stehen, beides sowohl in psychologischem als auch in direktem körperlichen Kontakt. Sind wir überhaupt miteinander verbunden?
Ich mag verheiratet sein, Kinder, Sex und alles übrige haben, bin ich aber überhaupt verbunden? Und womit bin ich verbunden? Ich bin mit dem Bild verbunden, dass ich mir von Ihnen oder ihr mache. Bitte geben Sie darauf acht, geben Sie doch acht. Und sie ist mit mir gemäß dem Bild verbunden, das sie von mir hat. Ja? Also stehen die beiden Bilder miteinander in Beziehung, und diese bildhafte, vorgestellte Beziehung nennt man Liebe! Sehen Sie doch, was für eine absurde Sache wir daraus gemacht haben.
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Das ist eine Tatsache. Das ist keine zynische Beschreibung. Dieses Bild habe ich mir von ihr in vielen Jahren oder zehn Tagen oder in einer Woche aufgebaut – oder ein Tag reicht aus. Und sie hat dasselbe gemacht. Verstehen Sie, wie grausam, wie hässlich, wie brutal, wie verrucht diese Bilder sind, die einer vom anderen hat? Man nennt den Kontakt dieser zwei Bilder eine Beziehung. Deshalb tobt ein ewiger Kampf zwischen dem Mann und der Frau, wo der eine versucht, den anderen zu beherrschen. Wenn einer die Herrschaft erreicht hat, wird eine Kultur um diese Herrschaft herum aufgebaut – das matriarchalische oder das patriarchalische System. Sie wissen, was im Gange ist. Ist das Liebe?
Wenn das Liebe ist, dann ist Liebe bloß ein Wort ohne Bedeutung. Denn Liebe ist nicht Vergnügen, nicht Eifersucht, nicht Neid, nicht die Trennung von Mann und Frau, wo einer den anderen beherrscht, einer den anderen antreibt, besitzt, dem anderen verhaftet ist. Das ist ganz gewiss keine Liebe – es ist bloß bequem und eine Sache der Ausbeutung. Doch das akzeptieren wir als Norm im Leben.
Wenn Sie das betrachten, es wirklich ansehen, dessen ganz gewahr werden, dann werden Sie darauf achten, dass Sie niemals mehr ein Bild aufbauen – egal was sie macht oder was Sie machen – Sie machen sich kein Bild mehr. Vielleicht entsteht aus diesem eine ganz ungewöhnliche Blume, die Blüte dessen, was man Liebe nennt; und es geschieht wirklich. Diese Liebe hat nichts mit » meiner« oder „deiner“ Liebe zu tun. Es ist Liebe. Wenn Sie das erfahren haben, werden Sie Ihre Kinder niemals zur Ausbildung in die Armee schicken, um getötet zu werden. Dann werden Sie eine ganz andere Art von Zivilisation hervorbringen, eine andere Kultur, andere Menschen, Männer und Frauen.
Saanen, 26. Juli 1973 Über die Liebe