Handeln ist Beziehung 1
Handeln ist Beziehung, und ohne Handeln können wir weder leben noch existieren.
Handlung scheint ständige Reibung, ständige Missverständnisse und Ängste zu erzeugen; und wir sehen in der Welt, dass jede organisierte Handlung leider zu einer Reihe von Katastrophen geführt hat. Wir sehen in der Welt um uns herum Verwirrung, Elend und widersprüchliche Wünsche; und angesichts dieses Weltchaos werden die nachdenklichsten und ernsthaftesten Menschen – nicht die, die sich etwas vormachen, sondern die, die sich wirklich Sorgen machen – natürlich erkennen, wie wichtig es ist, über das Problem des Handelns nachzudenken.
Es gibt das Handeln der Masse und das Handeln des Einzelnen; und das Handeln der Masse ist zu einer Abstraktion geworden, zu einem bequemen Ausweg für den Einzelnen. Wenn der Einzelne glaubt, dass dieses Chaos, dieses Elend, diese Katastrophe, die sich ständig ereignet, irgendwie durch Massenaktionen verändert oder in Ordnung gebracht werden kann, dann wird er unverantwortlich. Die Masse ist gewiss ein fiktives Gebilde; die Masse sind Sie und ich. Nur wenn Sie und ich den Zusammenhang des wirklichen Handelns nicht verstehen, wenden wir uns der Abstraktion namens Masse zu – und werden damit in unserem Handeln unverantwortlich.
Um unser Handeln zu reformieren, wenden wir uns entweder an einen Anführer oder an eine organisierte, kollektive Bewegung, was wiederum eine Massenbewegung ist. Wenn wir uns an einen Führer wenden, um die Richtung unseres Handelns zu bestimmen, wählen wir ausnahmslos eine Person, von der wir glauben, dass sie uns helfen wird, unsere eigenen Probleme und unser eigenes Elend zu überwinden. Aber da wir einen Führer aus unserer Verwirrung heraus wählen, ist der Führer selbst verwirrt.
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Wir wählen keinen Führer, der anders ist als wir selbst, das können wir gar nicht. Wir können nur einen Führer wählen, der wie wir selbst verwirrt ist. Deshalb führen uns solche Führer, solche Ratgeber, in weitere Verwirrung, in weiteres Elend. Da das, was wir wählen, aus unserer eigenen Verwirrung entstehen muss, folgen wir, wenn wir einem Führer folgen, nur unserer eigenen verwirrten Selbstprojektion. Deshalb führt eine solche Aktion, selbst wenn sie ein unmittelbares Ergebnis hat, unweigerlich zu weiterem Elend.
Wir sehen also, dass Massenaktionen, auch wenn sie in bestimmten Fällen lohnend sein mögen, zwangsläufig zur Verwirrung und zur Verantwortungslosigkeit des Einzelnen führen müssen; und dass die Gefolgschaft eines Führers die Verwirrung nur vergrößern kann. Und doch müssen wir leben. Leben heißt handeln, sein heißt in Beziehung sein. Es gibt kein Handeln ohne Beziehung, und wir können nicht in Isolation leben. Es gibt keine Isolation. Um also das Handeln zu verstehen, das nicht noch mehr Elend, noch mehr Verwirrung schafft, müssen wir uns selbst verstehen, mit all unseren Widersprüchen, unseren gegensätzlichen Elementen, unseren vielen Facetten, die ständig miteinander ringen. Solange wir uns selbst nicht verstehen, wird unser Handeln unweigerlich zu weiteren Konflikten, zu weiterem Elend führen.
Unser Problem ist es, mit Verständnis zu handeln, und dieses Verständnis kann nur aus der Selbsterkenntnis kommen. Schließlich ist die Welt eine Projektion meiner selbst. Was ich bin, ist die Welt; die Welt ist nicht anders als ich, die Welt ist nicht gegen mich. Die Welt und ich sind keine getrennten Entitäten. Die Gesellschaft ist ich selbst, es sind nicht zwei verschiedene Prozesse. Die Welt ist meine eigene Erweiterung, und um die Welt zu verstehen, muss ich mich selbst verstehen.
Das Individuum steht nicht im Gegensatz zur Masse, zur Gesellschaft, denn die Gesellschaft ist das Individuum. Die Gesellschaft ist die Beziehung zwischen mir und den anderen. Es gibt nur dann einen Gegensatz zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, wenn das Individuum verantwortungslos wird.
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Wir haben also ein großes Problem. Jedes Land, jeder Mensch, jede Gruppe befindet sich in einer gewaltigen Krise. Welches Verhältnis haben wir, Sie und ich, zu dieser Krise und wie sollen wir handeln? Wo müssen wir ansetzen, um Veränderungen herbeizuführen?
Wie gesagt, wenn wir uns an die Masse wenden, gibt es keinen Ausweg, denn die Masse braucht einen Führer, und die Masse wird immer von Politikern, Priestern und Experten ausgenutzt. Und da Sie und ich die Masse sind, müssen wir die Verantwortung für unser eigenes Handeln übernehmen, das heißt, wir müssen unsere eigene Natur verstehen, wir müssen uns selbst verstehen.
Sich selbst verstehen bedeutet nicht, sich von der Welt zurückzuziehen, denn das bedeutet Isolation, und in Isolation können wir nicht leben. Wir müssen verstehen, wie wir in Beziehungen handeln, und dieses Verständnis hängt davon ab, dass wir unsere eigene zwiespältige und widersprüchliche Natur verstehen.
Ich halte es für töricht, sich einen Zustand des Friedens vorzustellen, auf den wir hoffen können. Frieden und Ruhe kann es nur geben, wenn wir unsere eigene Natur verstehen und nicht einen Zustand voraussetzen, den wir nicht kennen. Es kann einen Zustand des Friedens geben, aber es ist sinnlos, darüber zu spekulieren.
Um richtig zu handeln, muss man richtig denken. Um richtig zu denken, muss man sich selbst erkennen. Selbsterkenntnis kann nur durch Beziehung, nicht durch Isolation entstehen. Und durch Selbsterkenntnis wächst dann richtiges Handeln.
Richtiges Handeln ist also das, was aus dem Verstehen unserer selbst erwächst, nicht nur eines Teils von uns selbst, sondern unseres ganzen Wesens, unserer widersprüchlichen Natur, all dessen, was wir sind.
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Wenn wir uns selbst verstehen, gibt es richtiges Handeln, und aus diesem Handeln erwächst Glück. Schließlich ist es das Glück, das wir haben wollen. Die meisten von uns suchen es in verschiedenen Fluchtversuchen – Flucht in die sozialen Aktivitäten, die bürgerliche Ordnung, ins Vergnügens, die Frömmigkeit, den Sex und unzählige anderer Fluchtweg. Aber es ist offensichtlich, dass diese Fluchten kein dauerhaftes Glück bringen, sondern nur eine vorübergehende Erleichterung. Sie enthalten grundsätzlich nicht Wahres, keine dauerhafte Freude.
Ich glaube, dass wir diese Freude, diese Ekstase, diese wahre Freude des schöpferischen Seins nur finden werden, wenn wir uns selbst verstehen. Dieses Selbsterkenntnis ist nicht einfach, sie erfordert eine gewisse Wachheit, ein Gewahrsein. Wachheit und Gewahrsein kann nur entstehen, wenn wir weder verurteilen noch rechtfertigen. Denn in dem Moment, in dem wir jemanden verurteilen oder rechtfertigen, endet der Prozess des Verstehens.
Wenn wir jemanden verurteilen, hören wir auf, ihn zu verstehen; und wenn wir uns mit ihm identifizieren, hören wir ebenfalls auf, ihn zu verstehen. Dasselbe gilt für uns selbst. Zu beobachten, sich passiv dessen bewusst zu sein, was man ist, ist äußerst schwierig. Aber aus diesem passiven Bewusstsein erwächst ein Verstehen, eine Verwandlung dessen, was ist, und nur diese Verwandlung öffnet die Tür zur Wirklichkeit.
Jiddu Krishnamurti Handeln das immer richtig ist (Deutsche Übersetzung) YouTube