was sind wir

Was sind wir


Was sind wir abgesehen vom Namen, von der Form, vielleicht vom Bankkonto (wenn Sie Glück haben), vielleicht von einer Fähigkeit, abgesehen davon, was sind wir? Leiden wir nicht? Oder gibt es kein Leid in Ihrem Leben? Gibt es Angst? Gibt es Sorgen, Habgier, Neid? Beten wir eine Vorstellung an, die der Verstand erschaffen hat? Klammern wir uns an ein Konzept, weil wir uns vor dem Tod fürchten? Leben wir nicht im Widerspruch, indem wir das eine sagen und das andere tun?

Das alles sind wir. Unsere Gewohnheiten, unsere Nichtigkeiten, das endlose Geschwätz, das uns im Kopf herum geht, macht das alles aus, was wir sind. Es ist der Inhalt des Bewusstseins, der das Bewusstsein bildet. Dieses Bewusstsein hat sich mit der Zeit, durch riesige Erfahrungen, Schmerzen und Leiden entwickelt.

Kann man sich davon befreien, von diesem großen Angstgefühl befreien? Denn solange die Angst besteht, gibt es keine Liebe. Wo fortwährend selbstsüchtige Aktivität herrscht, kann Sensibilität nicht existieren, und ohne Sensibilität gibt es keine Liebe. Und es gibt keine Liebe, wenn es keine Schönheit gibt. Schönheit gibt es nur im Erblühen der Tugend.

Was ist Schönheit

Wir wollen sehen, was Schönheit ist, nicht die Schönheit der Form, die angenehm ist, die Schönheit eines hübschen Baumes, die Schönheit eines grünen Feldes, die Schönheit eines Berges, seine Majestät vor dem blauen Himmel, die Schönheit eines Sonnenunterganges, die Schönheit einer einsamen Blume, die durch das Straßenpflaster wächst. Wir sind jetzt weder romantisch noch emotional, sondern wir untersuchen, was Schönheit ist. Verspüren Sie dieses Gefühl von Schönheit in Ihrem Leben oder ist es mittelmäßig, bedeutungslos, ein ewiger Kampf vom Morgen bis zum Abend? Was ist Schönheit? Das ist weder eine sinnliche noch eine sexuelle Frage. Es ist eine sehr ernste Frage, weil Sie ohne Schönheit im Herzen nicht tugendhaft werden können.

Haben Sie jemals einen Berg oder das blaue Meer betrachtet, ohne dabei zu schwatzen, ohne Geräusch zu machen, wirklich ihre ganze Aufmerksamkeit dem blauen Meer, der Schönheit des Wassers, der Schönheit des Lichtes auf der Wasserfläche geschenkt? Wenn Sie diese große Schönheit der Erde sehen mit ihren Flüssen, Seen, Bergen – was geschieht dann wirklich? Was geschieht, wenn Sie etwas betrachten, was Sie gesehen haben, das wirklich von vollendeter Schönheit ist – eine Statue, ein Gedicht, eine Lilie im Teich oder ein gepflegter Rasen?

In dem Augenblick lässt Sie die Majestät des Berges sich selber vergessen. Waren Sie schon mal in dieser Situation? Wenn ja, dann haben Sie erkannt, dass Sie selber in diesem Augenblick nicht existieren, wenn jene Herrlichkeit da ist. Aber ein paar Sekunden oder eine Minute später geht der ganze Kreislauf – diese Verwirrung, das Geschwätz von vorne los. Also – wo Sie nicht sind, ist Schönheit. Es ist tragisch, wenn Sie das nicht verstehen. Wo Sie nicht sind, ist die Wahrheit. Schönheit und Liebe sind da, wo Sie nicht sind. Wir sind fähig, dieses Große, das man Wahrheit nennt, zu sehen.

Kann die Menschheit jemals das Leiden beenden?

Kann die Menschheit jemals das Leiden beenden – nicht nur das persönliche Leid, sondern das Leiden der Menschheit? Denken Sie doch an alle die Männer und Frauen, die man in eintausend Kriegen verstümmelt hat! In der Welt ist Schmerz, ein globaler Schmerz, und dann gibt es auch Ihren eigenen Schmerz – das ist beides nicht voneinander getrennt. Bitte sehen Sie sich das an. Ich leide vielleicht, weil mein Sohn tot ist. Ich bin mir auch bewusst, dass die Frau meines Nachbarn tot ist. Das ist überall in der Welt dasselbe. So geschieht es seit Jahrtausenden, seit abertausenden von Jahren, und wir waren bisher nicht fähig, das aufzulösen.

Wir mögen davor fliehen, wir mögen Rituale und Zeremonien vollziehen, wir mögen alle Arten von Theorien erfinden, sagen, dass sei unser Karma, das käme aus der Vergangenheit, aber das Leid bleibt, nicht nur Ihres, sondern das der ganzen Menschheit. Kann dieses Leid jemals aufhören, oder gehört es zur Bedingung der Menschheit, dass das Leiden seit undenklichen Zeiten bis zum Ende der Zeit fortdauern muss? Falls Sie akzeptieren, dass das die Bedingung wäre – und ich hoffe, Sie tun das nicht – dann werden Sie endlos weiter leiden. Sie gewöhnen sich daran, wie es die meisten von uns tun.

Aber falls Sie das nicht akzeptieren, in welcher Position sind Sie dann? Werden Sie sich Zeit lassen, das Leiden zu beenden? Sie sind die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Sie sind das. Sie sind die Herren der Zeit, und Sie können die Zeit verlängern oder verkürzen. Wenn Sie gewalttätig sind und sagen: »Ich werde gewaltlos werden«, dann ist das ein Verlängern der Zeit. Während dieses Zeitraumes sind Sie gewalttätig, und diese Art von Aktivität endet nicht.

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Wenn Sie erkennen, dass Sie der Herr der Zeit sind, dass die Zeit in Ihren Händen liegt, was ganz besonders wichtig ist, dass man das entdeckt, dann bedeutet das, dass Sie der Tatsache der Gewalt ins Auge sehen. Sie verfolgen dann nicht die Gewaltlosigkeit, sondern sehen der Tatsache der Gewalt ins Angesicht, und während dieser Beobachtung gibt es überhaupt keine Zeit, weil es in dieser Beobachtung weder den Beobachter noch die Aufspeicherung der Vergangenheit gibt. Da ist nur die reine Beobachtung. In dieser gibt es keine Zeit.

Handeln Sie entsprechend? Während der Sprecher darüber spricht, erkennen Sie wirklich die Wahrheit darin und handeln entsprechend? Angenommen ich habe eine bestimmte körperliche oder psychologische Angewohnheit. Kann diese Angewohnheit sofort aufhören, oder werde ich mir die Zeit nehmen, um damit aufzuhören? Angenommen Sie rauchen: Können Sie mit dieser Angewohnheit sofort Schluss machen? Das körperliche Bedürfnis nach Nikotin ist etwas anderes als die Wahrnehmung, dass Sie der Herr der Zeit sind. Sie können die Zeit verkürzen, deshalb ist diese Wahrnehmung nicht der Entschluss, nicht mehr zu rauchen.

Was ist Leidenschaft?

Sehen Sie – Leidenschaft stellt sich erst dann ein, wenn man das Leid beendet. Leidenschaft ist nicht dasselbe wie Lust. Lust ist sinnlich, sexuell, sie ist voller Begehren, Bildern, der Jagd nach dem Vergnügen und so weiter. Nicht so die Leidenschaft. Sie brauchen die Leidenschaft, um erschaffen zu können – keine Babys -um eine veränderte Welt erschaffen zu können, um andere Menschen in die Welt zu bringen, um die Gesellschaft, in der Sie leben, verändern zu können. Ohne diese große Leidenschaft wird man mittelmäßig, nachgiebig, unklar, fehlt es einem an Integrität.

Mein Sohn ist tot, und ich leide. Ich vergieße Tränen. Ich besuche alle Tempel dieser Welt. Ich hatte meine ganze Hoffnung in diesen Sohn gesetzt, und nun ist er dahingegangen. Ich wünsche mir, dass er irgendwo anders lebt, und ich hoffe, dass ich ihm irgendwo im nächsten Leben wieder begegnen werde oder irgendwo anders. Damit spielen wir dauernd. Das Leid ist sehr schmerzlich. Tränen, der Trost, den andere Menschen geben, und meine eigene Suche nach Trost, der mich den Schmerz vergessen lässt, vertreiben weder den Schmerz noch dieses enorme Gefühl von Einsamkeit.

Kann ich das also ansehen, damit leben, in keiner Weise davor fliehen, ohne irgendeine Art rationale Erklärung für den Tod meines Sohnes zu suchen? Kann ich, ohne nach Reinkarnation oder etwas anderem zu suchen, ganz und gar bei diesem Gefühl von großem Schmerz bleiben? Was geschieht dann?

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Ich hoffe, dass Sie das nun mit dem Sprecher vollziehen. Hören Sie nicht bloß zu. Man sagt Ihnen hier nicht, was Sie tun sollen. Das ist kein intellektuelles Spiel; das ist unser Leben, unsere alltägliche Existenz. Der Mensch, den Sie lieben, könnte fortgehen, und es gibt Eifersucht, Sorge und Hass. Das ist unser Leben, und wir leiden.

Wenn mein Sohn gestorben ist, ertrage ich den Gedanken nicht, dass er dahingegangen ist. Kann ich mit diesem Schmerz, mit diesem Schmerz der Einsamkeit, ohne eine Gefühlsregung, ohne irgendeine Emotion leben? Die meisten von uns wissen, was Einsamkeit ist; diese Einsamkeit, wenn sie von jeder Beziehung ganz abgeschnitten sind. Sie finden sich plötzlich unter vielen Menschen wieder, aber Sie sind absolut einsam und allein. Es ist Teil des Leidens, sich in so einem Zustand zu befinden. Wenn mein Sohn stirbt, bin ich einsam. Kann ich die Einsamkeit ansehen, die Einsamkeit ohne vergangene Erinnerungen ansehen und sie ohne den Beobachter beobachten? Darüber werden wir sprechen.

Was ist Wut?

Wenn man wütend ist, gibt es in dem Augenblick der Wut, die eine Reaktion ist, weder den Beobachter noch das, was beobachtet wird. Haben Sie das bemerkt? Es gibt dann nur diese Reaktion, die man Wut nennt. Ein paar Minuten oder Sekunden später sagt der Beobachter: »Ich war wütend.« Also löst sich der Beobachter von der Wut und sagt dann: »Ich war wütend.« Aber der Beobachter ist dasselbe wie das, was er beobachtet. Die Wut ist mit mir identisch; ich bin die Wut. Ich bin Habgier.

Ich bin Angst. Das bin ich alles. Aber der Verstand sagt: »Ich muss das beherrschen, ich muss der Angst entfliehen«, so erschafft sich also der Verstand den Beobachter, der sich von dem, was er beobachtet, unterscheidet, und in diesem Zustand gibt es Widerspruch. Denn es ist eine Tatsache, dass der Beobachter das ist, was er beobachtet.

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Die Wut – das sind Sie, die Wut ist nicht etwas anderes. Ich bin in einem ähnlichen Zustand, wenn ich meinen Sohn verloren habe, ich beobachte ohne irgendeinen gedanklichen Vorgang, und das bedeutet, dass ich diesem Etwas Schmerz, diesem Etwas, Einsamkeit genannt, welches solche Verzweiflung, solche neurotische Aktivität weckt, volle Aufmerksamkeit schenke. Kann ich mit diesem Gefühl intensiven Leidens, mit dem Schmerz und Schock ohne den Schatten eines gedanklichen Vorganges leben? Das bedeutet, dass man seine ganze Aufmerksamkeit schenkt. Sie können nicht voller Aufmerksamkeit sein, wenn Sie zu entfliehen versuchen, das ist Energieverschwendung.

Wenn Sie aber Ihre ganze Aufmerksamkeit einsetzen, dann wird die gesamte Energie in einem einzigen Punkt, in dem Punkt gesammelt, den Sie mit Leid bezeichnen. Wenn Sie so handeln, verstehen Sie die ganze Bedeutung, die Tiefe und die Schönheit solch einer wichtigen Tatsache. Und dann endet das Leid. Wenn das Leid endet, stellt sich Leidenschaft ein; und mit dem Ende des Leidens stellt sich die Liebe ein.

Was ist Liebe?

Was ist Liebe? Haben Sie das schon einmal gefragt? Haben Sie schon jemals Ihren Mann oder Ihre Frau gefragt, was Liebe ist? Sie wagen es nicht! Liebe ich irgend jemanden? Wissen Sie, was das heißt? Ist Liebe Begehren? Ist Liebe Vergnügen? Ist Liebe Bindung? Bitte, überlegen Sie das alles. Ist Liebe Eifersucht? Oder ist Liebe jetzt zu einem sexuellen Akt geworden? Wir werden jetzt gemeinsam sehen, von welcher Beschaffenheit ein Geist oder Verstand sind, die lieben.

Lieben Sie Ihre Kinder, oder empfinden Sie es als Ihre Pflicht, verantwortlich für sie zu sein? Haben Sie jemals überlegt, ob Sie Ihre Kinder lieben? Sie werden sagen »natürlich«, aber wir fragen das jetzt ganz ernsthaft. Wenn Sie Ihre Kinder lieben würden, möchten Sie dann, dass sie so sind wie Sie? Oder würden Sie es lieber sehen, wenn sie ganz anders als Sie wären?

Wollen Sie, dass sie Ihnen in Ihrem Gewerbe, in Ihrem Geschäft nachfolgen? Weil Sie ein Industrieller sind, wollen Sie, dass auch Ihr Sohn ein Industrieller wird? Oder haben Sie Interesse daran, dass er tugendhaft oder eine Zierde an Schönheit werden sollte? Oder bereiten Sie ihn auf einen Krieg vor, in dem er töten muss und getötet wird? Ist das alles Liebe? Ich weiß, dass Sie sagen werden: »Wir können nichts daran ändern, was wir sind. Wir können unseren Kindern nicht helfen.

Wir schicken sie fort in die Schule und das ist eben das Ende.« Sie wollen nur, dass sie heiraten und in Mittelmäßigkeit sesshaft werden – so wie Sie sesshaft geworden sind – ohne Integrität, indem Sie das eine sagen und das andere tun, in den Tempel gehen und ein ausgezeichneter Anwalt sind. Das ist ein Widerspruch. Wollen Sie, dass Ihre Kinder so werden? Wenn Sie sie liebten, würden Sie das tun?

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Gibt es irgendwo auf der Welt Liebe? Ist Liebe Eifersucht? Ist Liebe Bindung? Wenn ich an meine Frau gebunden bin, was für eine Tragödie ist das doch, nicht wahr? Was ist in dieser Bindung impliziert? Ist das Liebe? Wenn ich an sie gebunden bin, bin ich von ihr abhängig, sowohl körperlich als auch psychologisch.

Sie hilft mir, ich helfe ihr. Ich habe Angst, dass sie mich verlassen könnte. Ich bin darum besorgt, dass sie mich nicht verlässt. Sie darf keinen anderen Mann anschauen, sie muss mir treu bleiben. Ich muss sie besitzen, sie beherrschen. Und sie will, dass man sie besitzt, dass man über sie dominiert. Ist das Liebe, in der Angst, Eifersucht, Hass und Qual herrschen? Ist das alles Liebe?

Was ist Mitgefühl?

Es ist Liebe, wenn man alles, was nicht Liebe ist, negiert. Also negieren wir ganz und gar die Eifersucht, die Bindung, jede Form von Besitzanspruch. Aus dieser totalen Negation entsteht Liebe. Sie gelangen an das Positive durch die Negierung; und das positivste von allem ist die Liebe. Eines der seltsamen Dinge in der Liebe ist, dass Sie nichts falsch machen können, falls Sie lieben. Wenn Liebe da ist, ist eine Handlung unter allen Umständen richtig. Wenn Liebe da ist, ist auch Mitgefühl da. Mitgefühl bedeutet Leidenschaft für alle.

Mitgefühl kann nicht bestehen, wenn Sie irgendeiner Sekte, irgendeiner Gruppe oder einer organisierten Religion angehören. Mitgefühl stellt sich nur in der Freiheit von dem allen ein; und dieses Mitgefühl birgt seine eigene, große, unbegrenzte Intelligenz. Wenn Liebe da ist, ist auch die Schönheit da. Liebe und Mitgefühl mit ihrer Intelligenz sind die endlose Wahrheit. Es gibt keinen Pfad, der zu dieser Wahrheit führt – nicht Karma-Yoga, Bhakti-Yoga oder was immer – es gibt keinen Pfad zur Wahrheit. Erst wenn dieses immense Gefühl von Mitgefühl da ist, das mit dem Ende des Leidens kommt, dann ist das, was ist, die Wahrheit.

Bombay, 31. Januar 1982

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