Einsamkeit gegen Alleinsein

Einsamkeit versus Alleinsein


Einsamkeit versus Alleinsein

Frage: Wir alle erfahren, was Einsamkeit ist. Wir wissen um Ihren Schmerz und kennen ihre Ursachen, ihre Wurzeln. Aber was ist Alleinsein? Ist es etwas anderes als Einsamkeit?

Krishnamurti: Einsamkeit ist der Schmerz, die Qual der Einsamkeit, der Zustand der Isolation, wenn Sie von Ihrem Wesen her nirgends hinpassen, weder in eine Gruppe noch in ein Land, wenn Sie von anderen, von Ihrer Frau, von Ihren Kindern, von Ihrem Mann abgeschnitten sind. Sie kennen diesen Zustand. Nun, kennen Sie das Alleinsein? Sie nehmen es als selbstverständlich hin, dass Sie allein sind, aber sind Sie allein?

Alleinsein ist etwas anderes als Einsamkeit

Aber ohne Einsamkeit zu verstehen, können Sie das Alleinsein nicht verstehen. Verstehen Sie die Einsamkeit? Sie haben sie heimlich beobachtet, angeschaut, ohne sie zu mögen. Wenn Sie sie wirklich kennenlernen wollen, müssen Sie mit ihr schrankenlos, ohne Rückschlüsse, Vorurteil oder Spekulation kommunizieren. Sie müssen sich ihr in Freiheit und ohne Angst nähern. Wenn Sie die Einsamkeit verstehen wollen, müssen Sie sich ihr ohne das geringste Angstgefühl nähern.

Wenn Sie an die Einsamkeit herangehen und erklären, dass Sie ihre Ursache, ihre Wurzeln kennen, dann können Sie sie nicht verstehen. Kennen Sie denn Ihre Wurzeln? Sie kennen Sie, indem Sie von außen darüber spekulieren. Kennen Sie den inneren Gehalt der Einsamkeit? Sie liefern hier bloß eine Beschreibung ab, und das Wort ist nicht die Sache, nicht das Wirkliche. Wenn Sie sie verstehen wollen, müssen Sie an sie herangehen, ohne das Gefühl, von ihr loskommen zu wollen. Schon allein der Gedanke, von der Einsamkeit loskommen zu wollen, ist in sich selber eine Form innerer Unzulänglichkeit.

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Sind nicht die meisten unserer Aktivitäten ein Ausweichen? Wenn Sie allein sind, stellen Sie das Radio an, zelebrieren Sie eine Puja, laufen den Gurus hinterher, klatschen mit anderen, gehen ins Kino, oder nehmen an Wettrennen teil. Ihr Leben ist eine Flucht vor sich selber, also werden die Fluchtmöglichkeiten übermächtig, und Sie streiten sich über die Fluchtwege, ob es das Trinken ist oder Gott. Das Problem ist, sie zu meiden, obgleich Sie verschiedene Fluchtmittel haben können.

Sie können sehr großen psychologischen Schaden durch Ihr ehrbares Entrinnen anrichten, genauso wie ich gesellschaftlich durch meine irdischen Fluchtmittel. Wenn man aber die Einsamkeit verstehen will, muss alles Entrinnen aufhören. Nicht indem man Gewalt und Zwang anwendet, sondern indem man erkennt, wie falsch Flucht ist. Dann erst stehen Sie direkt dem „was ist“ gegenüber, und das wahre Problem fängt an.

Was ist Einsamkeit?

Wenn Sie sie verstehen wollen, dürfen Sie sie nicht benennen. Gerade das Benennen, die gedankliche Assoziation an andere Erinnerungen dieser Art verstärkt die Einsamkeit. Experimentieren Sie damit, und erkennen Sie das. Wenn Sie aufhören zu entfliehen, werden Sie erkennen, dass – ehe Sie nicht verstanden haben, was Einsamkeit ist – alles, was Sie diesbezüglich tun, eine andere Form des Entrinnen ist. Sie können die Einsamkeit nur dann überwinden, wenn Sie sie verstehen.

Das Problem des Alleinseins ist etwas ganz anderes. Wir sind niemals allein. Wir sind immer mit anderen Menschen zusammen, außer vielleicht wenn wir allein spazieren gehen. Wir sind die Folge eines Gesamtprozesses, der sich aus wirtschaftlichen, sozialen, klimatischen und anderen Umwelteinflüssen zusammensetzt, und solange wir beeinflusst werden, sind wir nicht allein. Solange wir in diesem Prozess der Anhäufung und Erfahrung stecken, kann es kein Alleinsein geben.

Sie können sich vorstellen, dass Sie allein sind, indem Sie sich durch enge, individuelle, persönliche Aktivitäten isolieren, aber das ist kein Alleinsein. Erst wenn jeder Einfluss aufgehört hat, kann das Alleinsein bestehen. Das Alleinsein ist eine Aktion, die keine Folge einer Reaktion ist und auch keine Reaktion auf eine Herausforderung oder eine Anregung ist.

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Einsamkeit ist ein Isolationsproblem, und wir streben durch unsere Verbindungen nach Isolation, welche das Selbst an sich ist, das „Ich“, meine Arbeit, meine Art, meine Pflicht, mein Besitz, meine Beziehung. Es ist gerade der Denkprozess, der die Folge aller Gedanken und Einflüsse des Menschen ist, der in die Isolation führt. Es ist kein Akt der Bourgeoisie, wenn man die Einsamkeit versteht. Sie. können sie solange nicht verstehen, wie in Ihnen der Schmerz über diese unentdeckte Unzulänglichkeit ist, die mit Leere und Frustration einhergeht. Alleinsein ist keine Isolation, sie ist nicht das Gegenteil von Einsamkeit, sie ist ein Seins-zustand, wenn alle Erfahrung, alles Wissen ein Ende haben.

Madras, 5. Februar 1950

Schöpferische Freiheit

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