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Der Beobachter und des Beobachtete

Der Beobachter und des Beobachtete – Schöpfungsgeschichte

Wenn ich mir ein Bild von Ihnen oder von irgendeiner Sache mache, bin ich in der Lage, dieses Bild zu betrachten. Es ist also das Bild da und der Beobachter dieses Bildes. Nehmen wir an, ich sehe jemanden, der ein rotes Hemd trägt, und meine unmittelbare Reaktion ist, daß es mir gefällt oder daß ich es nicht mag.

Am Anfang war das Wort

Vorliebe oder Abneigung sind das Ergebnis meiner Bildung, meiner Erziehung, meines Umgangs, meiner Neigungen, meiner erworbenen und ererbten Eigenschaften. Von diesem Zentrum aus beobachte ich und bilde mein Urteil. Daraus folgt, daß der Beobachter von dem, was er beobachtet, getrennt ist.

Aber der Beobachter ist nicht nur eines Bildes, er ist vieler Bilder gewahr; er erzeugt Tausende von Bildern. Ist nun der Beobachter von diesen Bildern verschieden? Ist er nicht nur ein anderes Bild? Er fügt dem, was er ist, ständig etwas hinzu oder nimmt etwas hinweg. Er ist ein lebendiges Wesen, das – veranlaßt durch äußeren oder inneren Zwang – ständig abwägt, vergleicht, urteilt, modifiziert und sich wandelt. Er lebt auf einer Bewusstseinsebene, die seinem Wissen, den unzähligen Einflüssen und Erwägungen entspricht.

Wenn Sie den Beobachter betrachten, der Sie selbst sind, sehen Sie, daß er aus Erinnerungen, Erfahrungen, Zufällen, Einflüssen, Traditionen und einer unendlichen Vielfalt von Kümmernissen besteht – und das alles gehört der Vergangenheit an. So ist der Beobachter beides, die Vergangenheit und die Gegenwart; und der morgige Tag wartet und ist auch ein Teil von ihm. Er ist halb lebendig und halb tot, und in dieser Verfassung schaut er.

Er ist Ihr Leben

In diesem geistigen Zustand, der dem Bereich der Zeit angehört, schauen Sie, der Beobachter, auf die Furcht, auf die Eifersucht, auf den Krieg, auf die Familie – diese häßliche, abgekapselte Einheit – und versuchen, mit dem Problem fertig zu werden, das das Beobachtete in Ihnen hervorruft, das heißt mit der Herausforderung, dem Neuen. Sie reagieren auf das Neue immer mit den Begriffen des Alten und sind daher ewig in Konflikt.

Ein Bild, nämlich der Beobachter, beobachtet Dutzende von anderen Bildern um sich herum und in sich, und er sagt: »Ich liebe dieses Bild, ich werde es behalten«, oder: »Ich mag jenes Bild nicht, also werde ich es los.«

Der Schöpfer enttarnt

Aber der Beobachter selbst ist aus den vielen Bildern geschaffen worden, die durch die Reaktion auf verschiedene andere Bilder entstanden sind. So kommen wir zu dem Punkt, wo wir sagen können, der Beobachter ist auch das Bild, nur hat er sich abgesondert und beobachtet.

Dieser Beobachter, der durch die verschiedenen anderen Bilder entstanden ist, empfindet sich selbst als beständig, und zwischen ihm und den Bildern, die er geschaffen hat, besteht eine Trennung, ein Zeitintervall. Das erzeugt zwischen ihm und den Bildern, von denen er glaubt, daß sie die Ursache seiner Verwirrung sind, Konflikt. So sagt er dann: »Ich muß diesen Konflikt Ioswerden«; aber schon der Wunsch, sich von dem Konflikt zu befreien, erzeugt ein anderes Bild.

Meditation

Ein unmittelbares Gewahr werden dieser Dinge ist wirkliche Meditation und offenbart, daß es ein zentrales Bild gibt, das durch alle anderen Bilder geschaffen wurde. Dieses zentrale Bild, der Beobachter, ist zugleich der Zensor, der Erfahrende, der Wertende, der Richter, der der anderen Bilder Herr zu werden, sie zu unterwerfen wünscht oder sie alle vernichten möchte. Die anderen Bilder sind das Resultat der Urteile, Meinungen und Schlußfolgerungen des Beobachters, und der Beobachter ist das Resultat all der anderen Bilder – daher ist der Beobachter das Beobachtete.

So hat das unmittelbare Gewahrsein die verschiedenen Zustände unseres Geistes offenbart, hat die verschiedenartigen Bilder und den Widerspruch zwischen den Bildern bloßgelegt, hat den sich daraus ergebenden Konflikt aufgezeigt und die Verzweiflung darüber, nichts dagegen tun zu können, und die verschiedenen Versuche, davor zu fliehen. Das alles ist durch vorsichtiges, zurückhaltendes Gewahrsein offenbart worden, und so wird man sich der Tatsache bewußt, daß der Beobachter das Beobachtete ist.

Es ist kein höheres Wesen, das dieser Dinge gewahr wird, es ist kein höheres Selbst – das höhere Wesen, das höhere Selbst sind nur Erfindungen, sind weitere Bilder. Das unmittelbare Schauen hat offenbart, daß der Beobachter das Beobachtete ist.

Meditation? Nein

Wenn Sie sich selbst eine Frage stellen – wer ist dann wohl das Wesen, das die Antwort empfangen wird? Und wer ist das Wesen, das forschen wird? Wenn das Wesen Teil des Bewusstseins ist, Teil des Denkens, dann ist es unfähig das herauszufinden. Was es herausfinden kann, ist nur Bestandteil seines Bewusstseins. Daß aber in diesem Zustand noch ein Wesen ist, das sagt: »Ich muß bewußt sein, ich muß Gewahrsein üben«, das ist wiederum ein anderes Vorstellungsbild.

Dieses unmittelbare Gewahrsein, daß der Beobachter das Beobachtete ist, ist kein Prozeß der Identifizierung mit dem Beobachteten. Sich mit etwas anderem zu identifizieren, ist ziemlich leicht. Die meisten Menschen identifizieren sich mit etwas – mit ihrer Familie, ihrem Ehemann oder ihrer Ehefrau, ihrer Nation -, und das führt zu großem Elend und schrecklichen Kriegen.

Wir meinen hier etwas gänzlich anderes, und wir dürfen es nicht verbal verstehen, sondern müssen es tief innerlich, an der Wurzel unseres Seins erfassen.

Kein Wort = Kein Beobachter

Bevor ein Künstler im alten China etwas zu malen begann, einen Baum zum Beispiel, setzte er sich vor den Baum für Tage, Monate, Jahre nieder – es kam nicht darauf an, für wie lange -, bis er der Baum war.

Er identifizierte sich nicht mit dem Baum, sondern er war der Baum. Das bedeutet, daß zwischen ihm und dem Baum kein Abstand war, kein Raum zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten, kein Erfahrender, der die Schönheit, die Bewegung, den Schatten, die Fülle des Laubwerks, die Eigenart der Farben beobachtete. Er war der Baum ganz und gar, und nur in diesem Zustand konnte er malen.

Wenn der Beobachter nicht erkannt hat, daß er das Beobachtete ist, erzeugt jede seiner Handlungen nur eine neue Reihe von Bildern, in die er wieder eingefangen wird. Aber was geschieht, wenn sich der Beobachter bewußt ist, daß er das Beobachtete ist?

Gehen Sie langsam vor, sehr langsam, weil es eine höchst verwickelte Sache ist, in die wir jetzt eindringen werden. Was geschieht da?

Der Beobachter handelt überhaupt nicht. Der Beobachter hat immer gesagt: »Ich muß hinsichtlich dieser Bilder etwas tun, ich muß sie unterdrücken oder ihnen eine andere Form geben.« Er ist immer aktiv in Bezug auf das Beobachtete, er handelt oder reagiert leidenschaftlich oder gleichgültig, und diese Handlung aus Zuneigung oder Abneigung seitens des Beobachters wird positive Handlung genannt: »Ich mag es, daher muß ich es festhalten; ich mag es nicht, daher muß ich es loswerden.«

Das Ende der Zeit

Wenn der Beobachter aber erkennt, daß das Ding, das eine Handlung in ihm auslöst, er selbst ist, dann gibt es zwischen ihm und dem Bild keinen Konflikt. Er ist es selbst. Er ist davon nicht getrennt. Solange er abgesondert war, tat er etwas dazu oder versuchte etwas zu tun; aber wenn der Beobachter erkennt, daß er es selbst ist, dann gibt es keine Zuneigung oder Abneigung, und der Konflikt hört auf.

Wofür sollte er auch etwas tun? Wenn etwas Sie selber sind, was können Sie dann tun? Sie können nicht dagegen rebellieren oder davor fliehen, Sie können es nicht einmal akzeptieren. Es ist da. So hört jede Handlung auf, die das Ergebnis der Reaktion auf eine Zuneigung oder Abneigung ist.

Meditation im Alltag

Dann werden Sie zu einem Gewahrsein gelangen, das ungeheuer lebendig ist. Es ist nicht an ein Zentrum oder an ein Bild gebunden. Und aus dieser Intensität unmittelbaren Schauens entsteht eine Achtsamkeit von ganz anderer Beschaffenheit – und der Geist, dem dieses Gewahrsein eigen ist, wird außerordentlich sensitiv und in höchstem Maße intelligent.

Der Beobachter und des Beobachtete
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