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Zum Thema Wahrheit und Lüge

Zum Thema Wahrheit und Lüge – Frage: Wie wird Wahrheit – wie Sie gesagt haben ­– bei Wiederholung zur einer Lüge? Was ist eine Lüge wirklich? Warum ist es falsch zu lügen? Ist dies nicht ein tiefgreifendes und subtiles Problem auf allen Ebenen unseres Lebens? 

Krishnamurti: Es gibt hier zwei Fragen, also lassen Sie uns die erste untersuchen. Sie lautet: Wenn eine Wahrheit wiederholt wird, wie wird sie dann zu einer Lüge?

Was ist es, das wiederholt wird? Kann man ein Verstehen wiederholen?

Ich habe etwas verstanden. Kann ich es wiederholen?

Ich kann es verbalisieren, ich kann es kommunizieren, aber es ist nicht die Erfahrung, die wiederholt wird, oder?

Wir verfangen uns im Wort und verpassen die Bedeutung der Erfahrung.

Wenn Sie eine Erfahrung gemacht haben, können Sie sie wiederholen?

Sie mögen sie wiederholen wollen, Sie mögen das Verlangen nach ihrer Wiederholung, nach ihrer Empfindung haben, aber wenn Sie eine Erfahrung gemacht haben, ist sie vorbei, sie kann nicht wiederholt werden.

Was wiederholt werden kann, ist das Gefühl und das dazugehörige Wort, das dieses Gefühl wiederbelebt.

Da die meisten von uns leider Propagandisten sind, sind wir in der Wiederholung des Wortes gefangen.

So leben wir von Worten, und die Wahrheit wird negiert. 

Liebe

Nehmen Sie zum Beispiel das Gefühl der Liebe.

Können Sie es reproduzieren?

Wenn Sie die Worte „Liebe deinen Nächsten“ hören, ist das für Sie eine Wahrheit?

Es ist nur dann eine Wahrheit, wenn Sie Ihren Nächsten wirklich lieben; und diese Liebe kann nicht reproduziert werden Nur das Wort kann wiederholt werden.

Dennoch sind die meisten von uns glücklich und zufrieden mit der Wiederholung der Worte: „Liebe deinen Nächsten“oder „Sei nicht gierig“.

Die Wahrheit eines anderen oder eine tatsächliche Erfahrung, die Sie gemacht haben, wird durch blosses Wiederholen nicht zur Realität. Im Gegenteil, die Wiederholung verunmöglicht die Realität. Das bloße Wiederholen bestimmter Ideen ist nicht die Wirklichkeit. 

Unwahr ≠ Lüge

Die Schwierigkeit besteht darin, die Frage zu untersuchen, ohne in Begriffen der Gegensätzlichkeit zu denken.

Eine Lüge ist nicht etwas, das im Gegensatz zur Wahrheit steht. Man kann die Wahrheit dessen, was gesagt wird, nicht im Gegenteil oder im Kontrast zu einer Lüge oder einer Wahrheit erkennen; aber in der reinen Feststellung, dass wir meistens wiederholen, ohne zu verstehen.

Wir haben zum Beispiel über das Benennen und Nicht-benennen von Gefühlen gesprochen und so weiter. Viele Zuhörer wiederholen das Gehörte, da bin ich mir sicher, in der Meinung, sie sprächen die „Wahrheit“.

Nicht wahr = nicht aktuell

Eine Erfahrung geschieht nie zwei Mal, wenn es eine direkte Erfahrung ist.

Man kann darüber reden, aber wenn es sich um eine wirkliche Erfahrung handelt, sind die damit verbundenen Empfindungen nicht mehr da; der emotionale Inhalt hinter den Worten ist völlig verflogen. 

Nehmen Sie zum Beispiel das Konzept, dass der Denker und der Gedanke eins sind. Es mag für Sie eine Wahrheit sein, weil Sie es direkt erlebt haben. Wenn ich es ihnen aber nachplappern würde, wäre es nicht wahr, oder? – verstehen Sie wahr, nicht im Gegensatz zu falsch, bitte.

Wahr = tatsächlich

Es wäre nicht aktuell, es wäre lediglich eine Wiederholung und hätte daher keine Bedeutung.

Sehen Sie, durch Wiederholung schaffen wir ein Dogma, wir bauen eine Kirche und darin nehmen wir Zuflucht.

Das Wort und nicht die Wahrheit, wird zur „Wahrheit“. Das Wort ist nicht die Sache. Für uns ist die Sache das Wort und deshalb muss man so extrem vorsichtig sein, nicht etwas zu wiederholen, was man nicht wirklich versteht.

Wenn man etwas versteht, kann man es mitteilen, aber die Worte und die Erinnerung haben ihre emotionale Bedeutung verloren.

Da wir die Wahrheit durch Selbsterkenntnis suchen und keine bloßen Propagandisten sind, ist es wichtig, dies zu verstehen.

Wenn man es wirklich versteht, dann zeigt sich in der gewöhnlichen Konversation eine andere Perspektive und einen anderer Gebrauch von Worten. 

Durch Wiederholungen hypnotisiert man sich selbst durch Worte oder durch Empfindungen. Man verfängt sich in Illusionen.

Wahrheit = direkte Erfahrung

Um sich von den Illusionen zu befreien, ist es unerlässlich, die Geschehnisse direkt zu erfahren; und um direkt zu erfahren, muss man seiner selbst inmitten der Wiederholungen, der Gewohnheitsabläufen, der Worte, der Gefühle usw. gewahr sein.

Dieses Gewahrsein gibt einem eine außerordentliche Freiheit, so dass eine Erneuerung, ein ständiges Erleben, etwas Neues stattfinden kann. 

Was ist eine Lüge?

Die andere Frage lautet: „Was ist eigentlich eine Lüge? Warum ist es falsch zu lügen? Ist das nicht ein tiefes und subtiles Problem auf allen Ebenen unseres Lebens?“

Eine Lüge ist ein Widerspruch– nicht wahr? – ein Widerspruch in sich selbst.

Man kann bewusst widersprechen oder unbewusst; es kann bewusst oder unbewusst sein; der Widerspruch kann entweder sehr, sehr subtil oder offensichtlich sein.

Wenn der Zwiespalt im Widerspruch sehr groß ist, dann verliert man entweder das Gleichgewicht oder man erkennt den Zweispalt und macht sich daran, ihn zu „flicken“. 

Um zu verstehen, was eine Lüge ist und warum wir lügen, muss man sich damit auseinandersetzen, ohne sich in Begriffen des Gegenteils zu verfangen.

Können wir das Problem des Widerspruchs in uns selbst betrachten, ohne zu versuchen, nicht widersprüchlich zu sein?

Unsere Schwierigkeit bei der Untersuchung dieser Frage besteht darin, dass wir eine Lüge so bereitwillig verurteilen; aber können wir, um sie zu verstehen, davon absehen, in Wertbegriffen von wahr und unwahr zu denken und stattdessen den Widerspruch selbst untersuchen?

Warum widersprechen wir uns selbst?

Warum gibt es Widersprüche in uns selbst?

Versuchen wir nich andauernd, einem Standart gerecht zu werden, einem Verhaltensmuster – uns einem Vorbild anzupassen, etwas zu sein, entweder in den Augen anderer oder in unseren eigenen Augen?

Es gibt doch den Wunsch, einem Muster zu entsprechen – oder etwa nicht? Und wenn man diesem Muster nicht gerecht wird, gibt es Konflikt. 

Nun: Warum haben wir überhaupt ein Muster, einen Standard, eine Vorbild, eine Idee, denen wir versuchen, gerecht zu werden? Und warum?

Offensichtlich, um sicher zu sein, um beliebt zu sein, um eine gute Meinung von uns selbst zu haben und so weiter. Hier liegt der Keim der Widersprüchlichkeit.

Solange wir uns an etwas anpassen und versuchen, etwas zu sein, muss es Widersprüche geben. Daraus resultiert diese Spaltung zwischen dem Falschen und dem Wahren.

Ich denke, das ist – wenn man es sich in aller Ruhe betrachtet – sehr wichtig: Es geht wirklich nicht darum, dass es das Falsche und das Wahre nicht gäbe, sondern darum zu verstehen, warum wir uns selbst widersprechen.

Etwas Zu Sein

Liegt es nicht daran, dass wir versuchen, etwas zu sein – edel zu sein, gut zu sein, tugendhaft zu sein, kreativ zu sein, glücklich zu sein und so weiter?

Gerade in dem Wunsch, etwas zu sein, liegt ein Widerspruch – nämlich etwas anderes nicht zu sein. Es ist dieser Widerspruch, der so zerstörerisch ist.

Wenn man in der Lage ist, sich vollständig mit etwas zu identifizieren, mit diesem oder jenem, dann hört der Widerspruch auf.

Wenn wir uns aber mit etwas vollständig identifizieren, grenzen wir uns selbst ab, wir schliessen uns ein.

Dann entsteht ein Widerstand, der zu einem Ungleichgewicht führt – was eine offensichtliche Sache ist. 

°Warum gibt es diesen Widerspruch in uns selbst?

Ich habe etwas getan, und ich will nicht, dass es entdeckt wird. Ich habe etwas gedacht, dem ich nicht gerecht werde. Nun bin ich im Widerspruch mit mir selbst und das gefällt mir nicht.

Wo es Anpassung gibt, muss es Angst geben, und diese Angst ist es, die Widerstand erzeugt.

Wenn es hingegen kein Werden-wollen gibt, keinen Versuch, etwas zu sein, dann gibt es auch keine Angst. Und keinen Widerspruch.

Dann gibt keine Lüge ins uns – auf keiner Ebene, weder bewusst noch unbewusst – nichts, das unterdrückt werden muss, nichts vorzuweisen.

Stimmungen und Darstellungen

Da der größte Teil unseres Lebens eine Angelegenheit von Stimmungen und Darstellungen ist, schauspielern wir in Abhängigkeit von unserer Stimmung – was in sich widersprüchlich ist.

Wenn die Stimmung verflogen ist, sind wir, was wir sind.

Es ist dieser Widerspruch, der wirklich zählt, nicht ob man eine höfliche Unwahrheit sagt oder nicht.

Solange dieser Widerspruch besteht, ist das Leben zwangsläufig oberflächlich und voller oberflächlicher Ängste, die es zu hüten gilt – und daher die Ausflüchte, und alles Übrige.

Schauen wir uns diese Frage an und fragen nicht, was eine Lüge und was Wahrheit ist, sondern gehen wir ohne diese Gegensätze auf das Problem des Widerspruchs in uns selbst ein – was äußerst schwierig ist. Denn, da wir so sehr von Empfindungen abhängen, ist der größte Teil unseres Lebens widersprüchlich.

Wir hängen von Erinnerungen, von Meinungen ab; wir haben so viele Ängste, die wir vertuschen wollen – all das schafft Widerspruch in uns; wenn dieser Widerspruch unerträglich wird, dreht man durch.

Man will Frieden und alles, was man tut, erzeugt Krieg, nicht nur in der Familie, sondern auch außerhalb.

Anstatt zu verstehen, was den Konflikt erzeugt, versuchen wir nur, immer mehr das eine oder das andere zu werden, das Gegenteil von dem, was ist, und bewirken dadurch eine noch größere Spaltung. 

Ist es möglich, zu verstehen, warum es in uns selbst Widersprüche gibt – nicht nur oberflächlich, sondern viel tiefer, psychologisch?

Ist mein Leben ein Widerspruch?

Zuerst: Ist man sich überhaupt bewusst, dass man ein widersprüchliches Leben führt?

Wir wollen Frieden und sind Nationalisten; wir wollen soziales Elend vermeiden und doch sind alle Individualisten, eingegrenzt, in sich geschlossen.

Wir leben ständig in Widersprüchen. Warum eigentlich?

Liegt es nicht daran, dass wir Sklaven der Gefühle sind? Dies ist weder zu leugnen noch zu akzeptieren. Es bedarf eines hohen Maßes an Verständnis für die Auswirkungen der wunschbedingten Gefühle.

Wir wollen so viele Dinge, die alle im Widerspruch zueinander stehen.

Wir tragen so viele widersprüchliche Masken; wir nehmen eine Maske an, wenn sie uns passt, und verleugnen sie, wenn etwas anderes profitabler, angenehmer ist.

Es ist dieses widersprüchliche Sein, das Lügen erzeugt. Zur Abwehr dieses Zustandes erschaffen wir „Wahrheit“. Aber Wahrheit ist natürlich nicht das Gegenteil von Lüge. Wenn etwas ein Gegenteil hat, ist es nicht Wahrheit. Jedes Gegenteil enthält sein eigenes Gegenteil, deshalb ist es nicht Wahrheit.

Um dieses Problem in seiner ganzen Tiefe zu durchdringen, muss man sich all der Widersprüche bewusst sein, in denen man lebt.

Zum Beispiel: Wenn ich sage: „Ich liebe dich“, gehen damit Eifersucht, Neid, Angst, Furcht einher – das ist ein Widerspruch.

Es ist dieser Widerspruch, der verstanden werden muss, und man kann ihn nur verstehen, wenn man sich des Widerspruchs bewusst ist, bewusst, ohne Verurteilung oder Rechtfertigung – einfach nur anschauend.

Um die Widersprüche passiv zu betrachten, muss man alle Prozesse der Rechtfertigung und Verurteilung durchschauen. 

Passives Gewahrsein

Es ist keine einfache Sache, etwas passiv zu betrachten. Aber wenn man dies versteht, beginnt man, den ganzen Ablauf des eigenen Fühlens und Denkens zu verstehen.

Wenn man sich der vollen Bedeutung des Widerspruchs in sich selbst bewusst ist, bringt das eine außerordentliche Veränderung mit sich: Dann ist man sich selbst und nicht etwas, das man zu sein versucht. Man folgt nicht mehr einem Ideal und sucht nach Glück.

Sie sind, was Sie sind, und von dort aus können Sie weitergehen. Dann ist Widersprüchlichkeit gar nicht möglich.  

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