Frage zum Thema Erinnerung: Erinnerung, sagen Sie, ist eine unvollständige Erfahrung. Ich habe eine Erinnerung und einen lebendigen Eindruck von Ihren früheren Gesprächen. Inwiefern ist dies eine unvollständige Erfahrung? Bitte erklären Sie diese Auffassung in allen Einzelheiten.
Krishnamurti: Was verstehen wir unter Erinnerung?
Man geht zur Schule und ist voll von Fakten, technischem Wissen. Wenn man Ingenieur ist, benutzt man das Gedächtnis des technischen Wissens, um eine Brücke zu bauen. Das ist faktisches Gedächtnis.
Es gibt auch ein psychologisches Gedächtnis. Sie haben zum Beispiel etwas zu mir gesagt, etwas Angenehmes oder Unangenehmes, und ich behalte es im Gedächtnis; wenn ich Sie das nächste Mal treffe, begegne ich Ihnen mit diesem Gedächtnis, mit der Erinnerung an das, was Sie gesagt oder nicht gesagt haben.
Es gibt also zwei Aspekte der Erinnerung, der psychologische und der faktische. Sie sind immer miteinander verbunden und daher nicht eindeutig.
Wir wissen, dass das faktische Gedächtnis als Mittel zur Lebensführung unerlässlich ist, aber ist das psychologische Gedächtnis unerlässlich?
Psychologische Gedächtnis
Was sind die Inhalte, die das psychologische Gedächtnis aufbewahrt?
Was bringt einen dazu, sich an Beleidigungen oder Lob zu erinnern?
Warum behält man bestimmte Erinnerungen und weist andere zurück?
Offensichtlich bewahrt man lieber Erinnerungen, die angenehm sind, und geht Erinnerungen, die unangenehm sind, aus dem Weg.
Wenn Sie beobachten, werden Sie feststellen, dass schmerzhafte Erinnerungen schneller verdrängt werden als die angenehmen.
Das Bewusstsein besteht aus Erinnerung. Auf welcher Ebene und mit welchem Namen auch immer; das Bewustsein ist das Produkt der Vergangenheit, es gründet auf der Vergangenheit, welche Erinnerung, ein bedingter Zustand ist.
Mit dieser Erinnerung begegnen wir nun dem Leben mit seinen neuen Anforderungen. Die Anforderungen sind immer neu, aber unsere Antwort ist immer alt, denn sie stammt aus der Vergangenheit.
Erleben ohne Erinnerung
Also ist Erleben ohne Erinnerung ein Zustand und das Erleben mit Erinnerung ein anderer.
Das heißt, es gibt eine Herausforderung, die immer neu ist. Ich begegne ihr mit der Antwort, mit der Konditionierung des Alten.
Was geschieht dabei genau? Ich sauge das Neue auf, verstehe es jedoch nicht, wodurch das Erleben des Neuen durch die Vergangenheit bestimmt wird.
Deshalb gibt es nur ein teilweises Verstehen des Neuen, es gibt nie ein vollständiges Verstehen. Nur wenn etwas vollständig verstanden wird, hinterlässt es keine Narbe der Erinnerung.
Wann immer es eine Anforderung gibt, und die ist immer neu ist, antwortet man Ihr mit dem Alten.
Die Antwort des Alten beeinflusst das Neue und verdreht es daher, verleiht ihm eine Ausrichtung. Auf diese Weise wird das Neue in das Alte absorbiert und stärkt das Alte dementsprechend.
Das mag abstrakt erscheinen, aber es ist nicht schwierig, wenn man es etwas genauer und sorgfältiger betrachtet.
Die gegenwärtige Situation in der Welt erfordert einen neuen Ansatz, eine neue Art und Weise, das Weltproblem anzugehen, das immer wieder erneuert wird.
Wir sind nicht in der Lage, es neu anzugehen, weil wir es mit unserem konditionierten Verstand, mit nationalen, lokalen, familiären und religiösen Vorurteilen angehen.
Unsere früheren Erfahrungen
Unsere früheren Erfahrungen verhindern das Verständnis der neuen Herausforderung, also kultivieren und stärken wir weiterhin unser Gedächtnis. Deshalb verstehen wir nie das Neue, wir stellen uns der Herausforderung nie ganz, nie vollständig.
Erst wenn man in der Lage ist, sich einer Herausforderung neu, frisch, frei von der Vergangenheit zu stellen, erst dann kann sie Früchte tragen und ihren Reichtum entfalten.
Der Fragesteller sagt: „Ich habe eine Erinnerung und einen lebendigen Eindruck von Ihren früheren Gesprächen. Inwiefern ist dies eine unvollständige Erfahrung?“
Es ist offensichtlich eine unvollständige Erfahrung, da es sich um einen Eindruck, eine Erinnerung handelt.
Wenn man das, was gesagt wurde, versteht, sieht man seine Wahrheit sofort, nämlich, dass Wahrheit keine Erinnerung ist.
Wahrheit ist keine Erinnerung
Wahrheit ist keine Erinnerung, weil Wahrheit immer neu ist und sich ständig wandelt.
Sie haben eine Erinnerung an den vorherigen Vortrag. Warum?
Weil Sie den vorherigen Vortrag als eine Vorgabe verwenden, Sie haben ihn nicht vollständig verstanden. Sie wollen sich weiter damit beschäftigen, und unbewusst oder bewusst wird er konserviert.
Wenn Sie etwas vollständig verstehen, das heisst, die Wahrheit von etwas ganz und gar sehen, stellen sie feststellen, dass es keinerlei Erinnerung gibt.
Unsere Erziehung besteht aus der Kultivierung des Gedächtnisses und dessen Stärkung.
Unsere religiösen Praktiken und Rituale, unsere Lektür und unser Wissen, all das dient der Stärkung des Gedächtnisses.
Was meinen wir damit?
Warum halten wir am Gedächtnis fest?
Ich weiß nicht, ob Sie bemerkt haben, dass man, wenn man älter wird, auf die Vergangenheit zurückblickt, auf ihre Freuden, ihre Schmerzen, ihre Freuden; wenn man jung ist, blickt man in die Zukunft.
Warum tun wir das?
Warum ist Erinnerung so wichtig geworden?
Aus dem einfachen und offensichtlichen Grund, dass wir nicht wissen, wie wir ganz und gar in der Gegenwart leben können.
Die Zukunft ist die Vergangenheit in einer neuen Verpackung
Wir benutzen die Gegenwart als Instrument für die Zukunft, und deshalb hat die Gegenwart keine Bedeutsamkeit.
Wir können nicht in der Gegenwart leben, weil wir die Gegenwart als einen Übergang in die Zukunft benutzen.
Weil ich immer danach strebe, etwas zu werden, gibt es nie ein vollständiges Verstehen meiner selbst; um zu verstehen, was ich genau jetzt bin, bedarf es keiner Kultivierung des Gedächtnisses.
Im Gegenteil, das Gedächtnis ist ein Hindernis für das Verständnis dessen, was ist.
Ich weiß nicht, ob Sie bemerkt haben, dass ein neuer Gedanke, ein neues Gefühl nur dann entsteht, wenn der Verstand nicht im Netz der Erinnerung gefangen ist.
Das Intervall zwischen zwei Gedanken
Wenn es ein Intervall zwischen zwei Gedanken, zwischen zwei Erinnerungen gibt, wenn dieses Intervall aufrechterhalten werden kann, dann erwächst daraus ein neuer Seinszustand, der nicht mehr Erinnerung ist.
Wir haben Erinnerungen, und wir kultivieren das Gedächtnis als ein Mittel zur Fortdauer von uns selbst. „Ich“ und „mein“ werden sehr wichtig, solange die Pflege des Gedächtnisses besteht. Und da die meisten von uns aus „ich“ und „mein“ bestehen, spielt das Gedächtnis in unserem Leben eine sehr wichtige Rolle.
Wenn man kein Gedächtnis hätte, wären Besitz, Familie, eigene Ansichten als solche nicht wichtig; um also „ich“ und „mein“ zu bekräftigen, pflegt man das Gedächtnis.
Wenn Sie beobachten, können Sie sehen, dass es zwischen zwei Gedanken, zwischen zwei Emotionen ein Intervall gibt. In diesem Intervall, das nicht das Produkt des Gedächtnisses ist, gibt es eine außerordentliche Freiheit von „ich“ und „mein“, und dieses Intervall ist zeitlos.
Betrachten wir das Problem von dieser Seite: Erinnerung ist doch von Zeit bestimmt, nicht wahr?
Erinnerung schafft gestern, heute und morgen
Die Erinnerung an das Gestern bedingt das Heute und prägt daher das Morgen.
Das heisst, die Vergangenheit schafft durch die Gegenwart die Zukunft.
Es ist ein Zeitprozess im Gange, nämlich der Wille zu werden.
Erinnerung ist Zeit, und wir hoffen, mit der Zeit ein Resultat zu erreichen.
Ich bin heute ein Angestellter in einem Betrieb, aber mit der nötigen Zeit und Gelegenheit werde ich der Manager oder Eigentümer sein. Deshalb brauche ich Zeit.
Und mit der gleichen Mentalität sagen wir: „Ich werde die Realität erreichen, ich werde mich Gott nähern“. Ich muss Zeit haben, um zur Erkenntnis zu kommen. Folglich muss ich mein Gedächtnis durch Übung und Disziplin kultivieren, damit ich etwas werde, erreiche, gewinne, was darauf hinausläuft, in der Zeit weiter zu bestehen.
Mit und durch die Zeit hoffen wir, das Zeitlose zu erreichen, mit und durch Zeit hoffen wir, das Ewige zu gewinnen.
Kann man das? Kann man das Ewige im Netz der Zeit, mit Hilfe des des Gedächtnises, das Zeit ist, einfangen?
Das Zeitlose kann nur dann sein, wenn die Erinnerung, das „Ich“ und „Mein“ aufhört.
Wenn Sie diese Wahrheit erkennen – dass das Zeitlose durch die Zeit nicht verstanden oder empfangen werden kann – dann können wir uns dem Problem der Erinnerung zuwenden.
Die Erinnerung an technische Dinge ist wesentlich
Die Erinnerung an technische Dinge ist wesentlich; aber das psychologische Gedächtnis, welches das Selbst aus „ich“ und „mein“, aufrechterhält, das Identifikation und Selbstkontinuität verleiht, ist dem Leben und der Realität völlig abträglich.
Wenn man diese Wahrheit sieht, fällt das Falsche weg; deshalb gibt es keine psychologische Speicherung der gestrigen Erfahrung.
Man sieht einen schönen Sonnenuntergang, einen schönen Baum auf einem Feld. Wenn man ihn zum ersten Mal betrachtet, genießt man ihn vollständig, ganz und gar; aber beim zweiten Mal sieht man ihn mit dem Wunsch, ihn nochmals zu genießen.
Was passiert, wenn man etwas aus dem Wunsch heraus betrachtet, es zu genießen?
Das macht keine Freude, denn es ist die Erinnerung an den gestrigen Sonnenuntergang, die einen zum Genuss drängt.
Gestern gab es keine Erinnerung, nur eine spontane Würdigung, eine direkte Antwort; heute wünschen Sie sich, die Erfahrung von gestern wieder aufzunehmen.
Das heißt, die Erinnerung steht zwischen Ihnen und dem Sonnenuntergang, deshalb gibt es keinen Genuss, keinen Reichtum, keine Fülle der Schönheit.
Sie haben einen Freund, der gestern etwas zu Ihnen gesagt hat, eine Beleidigung oder ein Kompliment, und Sie behalten dies in Erinnerung. Und heute begegnen Sie Ihrem Freund mit dieser Erinnerung.
Sie treffen Ihren Freund nicht wirklich – die Erinnerung an das Gestern schaltet sich ein.
Wir machen also weiter, hüllen uns und unsere Handlungen in Erinnerungen, und deshalb gibt es keine Neuheit, keine Frische.
Deshalb macht die Erinnerung das Leben schwer, dumpf und leer.
Wir leben im Konflikt miteinander, weil „ich“ und „mein“ durch die Erinnerung gestärkt werden.
Die Erinnerung wird durch das Handeln in der Gegenwart lebendig; wir verleihen der Erinnerung durch die Gegenwart Leben, aber wenn wir der Erinnerung kein Leben einhauchen, verblasst sie.
Die Erinnerung an Fakten, an technische Dinge, ist eine offensichtliche Notwendigkeit, aber Erinnerung als psychologisches Festhalten schadet dem Verstehen des Lebens und der Beziehung miteinander.
What is the action of not letting memory intrude? | J. Krishnamurti
Saanen 1984 – Question #2 from Question & Answer Meeting #1