Tugend – Das Meer war völlig ruhig, und auf dem weißen Sand gab es kaum eine Welle. Im Norden der breiten Bucht lag die Stadt, im Süden standen Palmen, die fast das Wasser berührten. Dahinter waren gerade noch die ersten Haie zu sehen, dahinter die Fischerboote aus ein paar mit starken Seilen zusammengebundenen Baumstämmen. Sie fuhren zu einem kleinen Dorf im Süden. Der strahlende Sonnenuntergang fand nicht dort statt, wo man ihn erwarten würde, sondern im Osten. Es war ein umgekehrter Untergang und die massiven, formschönen Wolken leuchteten in allen Farben des Spektrums. Es war wirklich fantastisch, aber auch fast unerträglich anzusehen. Das Wasser fing die leuchtenden Farben ein und bildete einen Weg aus exquisitem Licht bis zum Horizont.
Ein paar Fischer waren auf dem Weg von der Stadt zurück in ihre Dörfer, aber der Strand war fast menschenleer und still. Über den Wolken war ein einzelner Stern zu sehen. Auf dem Rückweg schloss sich uns eine Frau an und fing an, über ernste Sachen zu reden. Sie sagte, sie gehöre einer bestimmten Gesellschaft an, deren Mitglieder meditierten und die wesentlichen Tugenden pflegten. Jeden Monat wurde eine bestimmte Tugend ausgewählt, die dann in den folgenden Tagen gepflegt und in die Praxis umgesetzt wurde. Aus ihrer Haltung und ihrer Sprache ging hervor, dass sie sehr diszipliniert war und etwas ungeduldig gegenüber denen, die nicht ihrer Meinung waren und ihre Ziele nicht teilten.
Tugend kommt aus dem Herzen und nicht aus dem Verstand. Wenn der Verstand Tugend kultiviert, ist das eine raffinierte Berechnung; es ist Selbstschutz, eine clevere Anpassung an die Umgebung. Self-Perfektion ist die Verleugnung der Tugend. Wie kann es Tugend geben, wenn etwas aus Angst geschieht? Angst kommt aus dem Verstand und nicht aus dem Herzen. Sie versteckt sich in verschiedenen Formen: Tugend, Ehrbarkeit, Anpassung, Dienstbarkeit usw. Angst existiert nur in den Aktivitäten und Beziehungen des Verstands.
Der Verstand ist nicht von seinen Aktivitäten getrennt, aber er trennt sich selbst und verleiht sich so Kontinuität und Beständigkeit. So wie ein Kind Klavier übt, so übt der Verstand willentlich Tugend, um sich im Umgang mit dem Leben beständiger und dominanter zu machen oder um das zu erreichen, was er für das Höchste hält. Um dem Leben zu begegnen, muss man verletzlich sein und darf sich nicht hinter einer anständigen Mauer aus sich selbst einschließenden Tugend verschanzen. Das Höchste kann nicht erreicht werden, denn es gibt keinen Weg und auch kein berechenbares fortschreitendes Wachstum dorthin. Die Wahrheit muss kommen; man kann nicht zur Wahrheit gehen. Die kultivierte Tugend wird einen nicht dorthin bringen. Was man erreicht, ist das eigene, selbst projizierte Verlangen. Nur in der Wahrheit liegt das Glück.
Die clevere Anpassungsfähigkeit des Geistes, sich selbst zu erhalten, hält die Angst aufrecht. Es gilt, diese Angst wirklich zu verstehen und nicht, wie man tugendhaft ist. Ein kleiner Geist kann zwar Tugend praktizieren, aber er bleibt trotzdem klein. Tugendhaftigkeit ist dann eine Flucht vor der eigenen Kleinheit. Dementsprechend klein ist die Tugendhaftigkeit, die er sich aneignet. Wie kann es zu einer Erfahrung der Realität kommen, wenn diese Kleinheit nicht durchschaut wird? Wie kann ein kleiner, tugendhafter Geist offen sein für das Unermessliche?
Wenn man den Prozess des Geistes, der ja das Selbst ist, versteht, entsteht Tugend. Tugend ist kein angesammelter Widerstand, sondern das spontane Bewusstsein und Verständnis dessen, was ist. Der Verstand kann nicht verstehen, sondern lediglich das Verstandene in Handlungen umsetzen. Um zu verstehen, muss es die Wärme der Anerkennung und Annahme geben, die nur das Herz geben kann, wenn der Verstand still ist.
Die Stille des Verstandes ist jedoch nicht das Ergebnis einer schlauen Kalkulation. Hinter dem zielgerichteten Verlangen nach Stille steckt der Fluch des Erreichen-Wollens mit all seinen endlosen Konflikten und Schmerzen. Das Verlangen, etwas zu sein, sei es negativ oder positiv, steht der Tugend des Herzens diametral entgegen. Tugend hat nichts mit Konflikt und Errungenschaft, langem Praktizieren zu tun. Tugend ist kein Ergebnis selbst projizierter Wünsche, sondern ein Seinszustand. Wenn es einen Kampf ums Sein gibt, dann ist das kein Sein.
Der Kampf um das Sein ist geprägt von Widerstand und Verneinung, Selbstkasteiung und Entsagung. Doch die Überwindung dieser Dinge ist keine Tugend. Tugend ist die Ruhe der Freiheit vom Verlangen nach dem Sein. Diese Ruhe kommt aus dem Herzen, nicht aus dem Verstand. Durch Praktizieren, Zwang und Widerstand kann der Verstand sich selbst zur Schweigen bringen, aber eine solche Disziplin zerstört die Tugend des Herzens, ohne die es keinen Frieden und keinen Segen gibt; denn die Tugend des Herzens ist Verständnis. Bringen, doch eine solche Disziplin zerstört die Tugend des Herzens. Ohne diese gibt es keinen Frieden und keinen Segen, denn die Tugend des Herzens ist Verstehen.
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