Die Wurzel der Angst – Teil 2
PJ: Ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Ist Angst nicht Teil des kulturellen Erbes der Menschheit?
K: Angst ist immer da. Ist sie Teil unseres kulturellen Erbes? Oder ist es möglich, in einem Land, in einer Kultur geboren zu werden, in der Angst nicht existiert.
PJ: Eine solche Kultur gibt es nicht.
K: Natürlich nicht. Und deshalb frage ich mich: Ist Angst Teil der Kultur oder ist sie dem Menschen angeboren? Die Angst, die ein Tier hat, die jedes Lebewesen hat, ist die Angst, nicht zu existieren, die Angst, ausgelöscht zu werden.
PJ: Der Selbsterhaltungstrieb zeigt sich in Form von Angst.
K: Hat die gesamte Zellstruktur Angst vor dem Nicht-Sein? Diese Angst existiert in jedem Lebewesen. Selbst die kleine Ameise hat Angst vor dem Nicht-Sein. Wir sehen, dass Angst da ist; wir sehen, dass sie Teil der menschlichen Existenz ist, und in einer Krisensituation wird sie uns erschreckend bewusst. Wie geht man damit um, wenn man von der Woge der Angst überrollt wird? Warum warten wir, bis die Krise kommt? Ich frage nur.
PJ: Weil man es dann nicht vermeiden kann.
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K: Einen Moment. Wir sagen, dass die Angst immer da ist, dass sie Teil unserer biologischen und psychischen Struktur ist. Der gesamte menschliche Organismus – unser ganzes Wesen – hat Angst. Selbst die winzigsten Lebewesen haben Angst; sie ist Teil der kleinsten Zelle. Warum warten wir darauf, dass eine Krise kommt und die Angst ans Licht bringt? Das ist ein völlig irrationales Hinnehmen der Angst. Ich frage: Warum muss ich erst in eine Krise geraten, um mich mit der Angst auseinander zu setzen?
PJ: Weil sie ansonsten gar nicht existent ist. Manchen Ängsten kann ich mit Intelligenz begegnen. Man kann sich beispielsweise auf intelligente Art und Weise mit der Angst vor dem Tod auseinander setzen. Kann man auch anderen Ängsten auf intelligente Weise begegnen?
K: Du sagst, dass du dich auf intelligente Weise mit diesen Ängsten auseinander setzen kannst, aber ich bezweifle das. Ich bezweifle, dass du dich mit irgendeiner Angst intelligent – wie du es ausdrückst – auseinander setzt. Ich bezweifle, dass du überhaupt über Intelligenz verfügen kannst, solange du die Angst nicht aufgelöst hast. Intelligenz ist nur da, wenn keine Angst da ist. Intelligenz ist Licht, und du kannst nicht mit der Dunkelheit fertig werden, wenn kein Licht da ist.
Licht existiert nur in Abwesenheit von Dunkelheit. Ich bezweifle, dass man intelligent mit der Angst umgehen kann, wenn sie da ist. Ich sage, dass es nicht möglich ist. Man kann sie vielleicht verstandesmäßig erklären, man kann vielleicht ihr Wesen erkennen, man kann ihr vielleicht ausweichen oder über sie hinausgehen, aber all das hat nichts mit Intelligenz zu tun.
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PJ: Ich würde sagen, dass es intelligent ist, die auftauchende Angst bewusst wahrzunehmen, sie in Ruhe zu lassen, nicht zu versuchen, sie zu verändern, sich nicht von ihr abzuwenden und so zu ihrer Auflösung beizutragen. Aber du sagst, dass da, wo Intelligenz ist, keine Angst entsteht.
Nandini Metha (NM): Dann taucht keine Angst auf?
K: Wir lassen nicht zu, dass Angst entsteht.
NM: Ich glaube schon, dass Angst entsteht, aber wir lassen nicht zu, dass sie aufblüht.
K: Ich stelle die ganze Reaktion auf eine Krise in Frage. Die Angst ist da; warum brauchst du eine Krise, um sie wachzurufen? Du sagst, du gerätst in eine Krise und wachst auf. Ein Wort, eine Geste, ein Blick, eine Bewegung, ein Gedanke – das sind die Herausforderungen, die sie deiner Meinung nach heraufbeschwören. Und ich frage: Warum warten wir auf die Krise? Wir untersuchen. Wissen Sie, was das Wort ›untersuchen‹ (investigate) bedeutet? Es bedeutet, ›eine Spur verfolgen‹. Also verfolgen wir eine Spur, wir behaupten nicht dies oder jenes. Wir verfolgen die Spur, und ich frage: Warum warte ich auf eine Krise? Eine Geste, ein Gedanke, ein Wort, ein Blick, ein Flüstern – all das sind Herausforderungen.
NM: Ich warte nicht auf die Krise. Ich weiß nur, dass sie kommt und dass ich dann wie gelähmt bin.
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K: Du erstarrst. Warum? Deshalb brauchst du eine Herausforderung. Warum nimmst du nicht mit der Angst Kontakt auf, bevor die Herausforderung dich dazu zwingt? Du sagst, dass eine Krise die Angst wachruft. Eine Krise beginnt mit einem Gedanken, einer Geste, einem Wort, einem Flüstern, einem Blick, einem Brief. Wird die Angst durch eine Herausforderung wachgerufen? Ich frage mich: Warum sollte man sich der Angst nicht auch ohne Herausforderung bewusst werden können? Wenn Angst da ist, muss sie ja wach sein, oder schlummert sie im Verborgenen? Und wenn ja, warum schlummert sie? Fürchtet der bewusste Verstand, dass die Angst erwachen könnte? Hat er sie betäubt und weigert sich, sie anzuschauen?
Wir wollen langsam vorangehen, denn wir sind einer Bombe auf der Spur. Hat sich der bewusste Geist davor gefürchtet, die Angst anzuschauen, und hat er deshalb dafür gesorgt, dass sie ruhig ist? Oder ist es so, dass die Angst da ist, wach ist und der bewusste Verstand sie nur nicht sich entfalten lässt? Trifft es für dich zu, dass Angst ein Teil des menschlichen Lebens, der menschlichen Existenz, ist?
PJ: Angst existiert nicht unabhängig von der äußeren Erfahrung, nicht ohne die auslösenden Reize der äußeren Erfahrung.
- Nandina Metha:Nandina traf Jiddu Krishnamurti 1948 in Bombay, als sie ihren Schwiegervater, den Mühlenbesitzer Sir Chunilal Mehta, zu einem seiner Treffen begleitete. Im Laufe der nächsten 38 Jahre, bis zu seinem Tod 1986, wurden Nandini und Krishnamurti gute Freunde und tauschten zahllose Briefe aus. Über die Jahre hinweg teilte Krishnamurti mit Nandini seine Gedanken und Lehren, sein Mitgefühl für sie und ihre Familie.
- „Walking with Krishnamurti“ – Nandina Metha