Die Wurzel der Angst

Die Wurzel der Angst – Teil 1

Pupul Jayakar (PJ): Krishnaji, du hast gesagt, angesichts der Angst biete Intelligenz die größte Sicherheit. Das Problem ist nur: Wo bleibt Raum für Intelligenz, wenn wir inmitten einer Krise von Angst aus dem Unbewussten überschwemmt werden? Intelligenz setzt die Verneinung all dessen voraus, was sich als Hindernis in den Weg stellt. Intelligenz setzt voraus, dass wir fähig sind, zu hören, zu sehen und zu beobachten.

Aber wenn der gesamte Organismus von unkontrollierbarer Angst überschwemmt wird, Angst, die eine Ursache hat, welche jedoch nicht unmittelbar erkennbar ist – wo ist da Raum für Intelligenz in diesem Zustand? Was macht man mit den archetypischen Urängsten, die tief am Grund der  menschlichen Psyche schlummern? Eine dieser Urängste ist die Angst vor der Vernichtung des Selbst, die Angst, nicht mehr zu sein.

J. Krishnamurti (K): Was untersuchen wir jetzt gemeinsam?

PJ: Wie wird man mit Angst fertig, wie geht man mit ihr um? Du hast die Frage noch nicht beantwortet. Du hast davon gesprochen, dass Intelligenz die größte Sicherheit darstellt. Das stimmt, aber wo ist die Intelligenz, wenn wir von Angst überschwemmt werden? 

K: Du sagst, dass angesichts einer großen Woge der Angst keine Intelligenz da ist. Und du fragst: Wie kann man in diesem Moment mit dieser Woge der Angst umgehen? Ist das die Frage? 

Sunanda Patwardhan (SP): Wir betrachten die Angst wie die Äste eines Baumes. Dabei setzen wir uns mit einer Angst nach der anderen auseinander und werden so niemals frei von Angst. Gibt es eine innere Qualität, die einfach die Angst sehen kann – ohne die Äste?

K: K fragte: Sehen wir die Blätter, die Äste und Zweige der Angst oder dringen wir bis zu ihrer Wurzel vor?

SP: Können wir bis zur Wurzel jedes einzelnen Zweiges der Angst vordringen? 

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K: Wir wollen es herausfinden. 

PJ: Vielleicht kann man durch das Betrachten einer Angst das Ganze sehen. 

K: Ich verstehe. Du sagst, dass es bewusste und unbewusste Ängste gibt, dass die unbewussten Ängste manchmal ungeheuer stark werden und dass die Intelligenz in solchen Momenten nicht zur Verfügung steht. Und dann fragst du, wie man mit diesen Wellen unkontrollierbarer Angst fertig werden kann. Ist es so? 

PJ: Diese Ängste scheinen tatsächlich eine körperliche Form anzunehmen; es ist ein physischer Vorgang, der uns überwältigt. 

K: Ja, sie bringen unser Nervensystem, unseren Organismus durcheinander … Wir wollen das genauer untersuchen. Wir haben Angst – bewusst oder unbewusst –, wenn wir uns einsam fühlen, uns von anderen absolut verlassen oder isoliert fühlen, wenn wir das Gefühl haben, nicht mehr zu existieren, wenn wir uns völlig hilflos fühlen. Und in diesen Augenblicken tiefer, unkontrollierbarer, unerwarteter Angst ist die Intelligenz offensichtlich nicht vorhanden.

PJ: Man hat vielleicht den Eindruck, dass man sich mit den bekannten Ängsten auseinander gesetzt hat, aber ohne es zu merken, wird man überschwemmt.

K: Das haben wir ja gesagt. Lass uns darüber sprechen. Mit physischen, bewussten Ängsten kann man fertig werden. Die Randbereiche der Intelligenz können damit fertig werden – das heißt, mit den bewussten Ängsten.

PJ: Man kann diesen Ängsten sogar erlauben aufzublühen. 

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K: Und diesem Aufblühen wohnt Intelligenz inne. Aber wie wird man mit den anderen fertig? Warum enthält das Unbewusste – wir wollen fürs erste das Wort ›unbewusst‹ verwenden – diese Ängste? Oder lädt es sie ein? Enthält es sie von vornherein, existieren sie als etwas Überliefertes in den Tiefen des Unbewussten, oder nimmt das Unbewusste diese Ängste aus der Umgebung auf? Warum existieren überhaupt Ängste im Unbewussten? Sind sie ein natürlicher Bestandteil des Unbewussten, Bestandteil der Tradition und der Geschichte der menschlichen Rasse? Werden sie mit den Genen vererbt? Wie geht ihr mit diesem Problem um? 

PJ: Können wir über die zweite Frage sprechen? Darüber, ob das Unbewusste die Ängste aus der Umgebung aufnimmt? 

K: Lass uns zunächst einmal über die erste Frage sprechen. Warum enthält das Unbewusste überhaupt Ängste? Warum halten wir die tieferen Schichten des Bewusstseins für das Reservoir, für die Reste der Angst? Werden uns die Ängste durch die Kultur aufgebürdet, in der wir leben? Oder durch den bewussten Verstand, der sie, weil er nicht mit ihnen umgehen kann, nach unten geschoben hat, so dass sie auf der Ebene des Unbewussten bleiben?

Oder ist es so, dass unser Geist mit all seinen Inhalten seine Probleme nicht gelöst hat und fürchtet, sie nicht lösen zu können? Ich will herausfinden, welche Bedeutung dem Unbewussten zukommt. Als du sagtest, dass diese Wellen der Angst auftauchen, erwiderte ich, dass sie immer da sind, sie uns aber erst in einer Krise bewusst werden. 

SP: Sie existieren im Bewusstsein. Warum sagst du, dass sie im Unbewussten existieren?

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K: Zunächst einmal: Das Bewusstsein besteht aus seinen Inhalten. Ohne diese Inhalte gibt es kein Bewusstsein. Einer dieser Inhalte ist diese Urangst, und der bewusste Geist setzt sich nie damit auseinander; sie ist da, aber der Verstand sagt nie: »Ich muss mich damit auseinander setzen.« In Krisenzeiten erwacht dieser Teil des Bewusstseins und fürchtet sich. Aber die Angst ist immer da.

Die Wurzel der Angst



Die Wurzel der Angst – Teil 2

PJ: Ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Ist Angst nicht Teil des kulturellen Erbes der Menschheit?

K: Angst ist immer da. Ist sie Teil unseres kulturellen Erbes? Oder ist es möglich, in einem Land, in einer Kultur geboren zu werden, in der Angst nicht existiert. 

PJ: Eine solche Kultur gibt es nicht.

K: Natürlich nicht. Und deshalb frage ich mich: Ist Angst Teil der Kultur oder ist sie dem Menschen angeboren? Die Angst, die ein Tier hat, die jedes Lebewesen hat, ist die Angst, nicht zu existieren, die Angst, ausgelöscht zu werden. 

PJ: Der Selbsterhaltungstrieb zeigt sich in Form von Angst. 

K: Hat die gesamte Zellstruktur Angst vor dem Nicht-Sein? Diese Angst existiert in jedem Lebewesen. Selbst die kleine Ameise hat Angst vor dem Nicht-Sein. Wir sehen, dass Angst da ist; wir sehen, dass sie Teil der menschlichen Existenz ist, und in einer Krisensituation wird sie uns erschreckend bewusst. Wie geht man damit um, wenn man von der Woge der Angst überrollt wird? Warum warten wir, bis die Krise kommt? Ich frage nur.

PJ: Weil man es dann nicht vermeiden kann.

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K: Einen Moment. Wir sagen, dass die Angst immer da ist, dass sie Teil unserer biologischen und psychischen Struktur ist. Der gesamte menschliche Organismus – unser ganzes Wesen – hat Angst. Selbst die winzigsten Lebewesen haben Angst; sie ist Teil der kleinsten Zelle. Warum warten wir darauf, dass eine Krise kommt und die Angst ans Licht bringt? Das ist ein völlig irrationales Hinnehmen der Angst. Ich frage: Warum muss ich erst in eine Krise geraten, um mich mit der Angst auseinander zu setzen? 

PJ: Weil sie ansonsten gar nicht existent ist. Manchen Ängsten kann ich mit Intelligenz begegnen. Man kann sich beispielsweise auf intelligente Art und Weise mit der Angst vor dem Tod auseinander setzen. Kann man auch anderen Ängsten auf intelligente Weise begegnen? 

K: Du sagst, dass du dich auf intelligente Weise mit diesen Ängsten auseinander setzen kannst, aber ich bezweifle das. Ich bezweifle, dass du dich mit irgendeiner Angst intelligent – wie du es ausdrückst – auseinander setzt. Ich bezweifle, dass du überhaupt über Intelligenz verfügen kannst, solange du die Angst nicht aufgelöst hast. Intelligenz ist nur da, wenn keine Angst da ist. Intelligenz ist Licht, und du kannst nicht mit der Dunkelheit fertig werden, wenn kein Licht da ist.

Licht existiert nur in Abwesenheit von Dunkelheit. Ich bezweifle, dass man intelligent mit der Angst umgehen kann, wenn sie da ist. Ich sage, dass es nicht möglich ist. Man kann sie vielleicht verstandesmäßig erklären, man kann vielleicht ihr Wesen erkennen, man kann ihr vielleicht ausweichen oder über sie hinausgehen, aber all das hat nichts mit Intelligenz zu tun.

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PJ: Ich würde sagen, dass es intelligent ist, die auftauchende Angst bewusst wahrzunehmen, sie in Ruhe zu lassen, nicht zu versuchen, sie zu verändern, sich nicht von ihr abzuwenden und so zu ihrer Auflösung beizutragen. Aber du sagst, dass da, wo Intelligenz ist, keine Angst entsteht.

Nandini Metha (NM): Dann taucht keine Angst auf?

K: Wir lassen nicht zu, dass Angst entsteht. 

NM: Ich glaube schon, dass Angst entsteht, aber wir lassen nicht zu, dass sie aufblüht.  

K: Ich stelle die ganze Reaktion auf eine Krise in Frage. Die Angst ist da; warum brauchst du eine Krise, um sie wachzurufen? Du sagst, du gerätst in eine Krise und wachst auf. Ein Wort, eine Geste, ein Blick, eine Bewegung, ein Gedanke – das sind die Herausforderungen, die sie deiner Meinung nach heraufbeschwören. Und ich frage: Warum warten wir auf die Krise? Wir untersuchen. Wissen Sie, was das Wort ›untersuchen‹ (investigate) bedeutet? Es bedeutet, ›eine Spur verfolgen‹. Also verfolgen wir eine Spur, wir behaupten nicht dies oder jenes. Wir verfolgen die Spur, und ich frage: Warum warte ich auf eine Krise? Eine Geste, ein Gedanke, ein Wort, ein Blick, ein Flüstern – all das sind Herausforderungen. 

NM: Ich warte nicht auf die Krise. Ich weiß nur, dass sie kommt und dass ich dann wie gelähmt bin. 

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K: Du erstarrst. Warum? Deshalb brauchst du eine Herausforderung. Warum nimmst du nicht mit der Angst Kontakt auf, bevor die Herausforderung dich dazu zwingt? Du sagst, dass eine Krise die Angst wachruft. Eine Krise beginnt mit einem Gedanken, einer Geste, einem Wort, einem Flüstern, einem Blick, einem Brief. Wird die Angst durch eine Herausforderung wachgerufen? Ich frage mich: Warum sollte man sich der Angst nicht auch ohne Herausforderung bewusst werden können? Wenn Angst da ist, muss sie ja wach sein, oder schlummert sie im Verborgenen? Und wenn ja, warum schlummert sie? Fürchtet der bewusste Verstand, dass die Angst erwachen könnte? Hat er sie betäubt und weigert sich, sie anzuschauen? 

Wir wollen langsam vorangehen, denn wir sind einer Bombe auf der Spur. Hat sich der bewusste Geist davor gefürchtet,  die Angst anzuschauen, und hat er deshalb dafür gesorgt, dass sie ruhig ist? Oder ist es so, dass die Angst da ist, wach ist und der bewusste Verstand sie nur nicht sich entfalten lässt? Trifft es für dich zu, dass Angst ein Teil des menschlichen Lebens, der menschlichen Existenz, ist?

PJ: Angst existiert nicht unabhängig von der äußeren Erfahrung, nicht ohne die auslösenden Reize der äußeren Erfahrung.

Die Wurzel der Angst

  • Nandina Metha:Nandina traf Jiddu Krishnamurti 1948 in Bombay, als sie ihren Schwiegervater, den Mühlenbesitzer Sir Chunilal Mehta, zu einem seiner Treffen begleitete. Im Laufe der nächsten 38 Jahre, bis zu seinem Tod 1986, wurden Nandini und Krishnamurti gute Freunde und tauschten zahllose Briefe aus. Über die Jahre hinweg teilte Krishnamurti mit Nandini seine Gedanken und Lehren, sein Mitgefühl für sie und ihre Familie.
  • „Walking with Krishnamurti“ – Nandina Metha



Die Wurzel der Angst – Teil 3

K: Warte, ich stelle das in Frage, ich akzeptiere das nicht. Du sagst, dass die Angst ohne den äußeren Reiz nicht existiert. Wenn das für dich wahr ist, muss es auch für mich wahr sein, denn ich bin ein Mensch. 

PJ: Beziehe dabei sowohl die äußeren wie die inneren Reize mit ein.

K: Ich trenne nicht zwischen innen und außen. Das ist alles ein Vorgang.

PJ: Die Angst existiert nicht unabhängig von den Reizen.

K: Du entfernst dich vom Thema Pupul.

PJ: Du fragst: Warum schaust du sie dir nicht an, warum stellst du dich ihr nicht? 

K: Ich frage mich: Muss ich erst auf eine Krise warten, die diese Angst in mir wachruft? Das ist meine ganze Frage. Wenn die Angst da ist, wer hat sie betäubt? Ist es, weil der bewusste Verstand sie nicht auflösen kann? Der bewusste Verstand will das Angstproblem lösen, und weil er dazu nicht in der Lage ist, betäubt er die Angst, er bringt sie zum Schweigen. Und der Verstand ist erschüttert, wenn er in eine Krise gerät und die Angst aufsteigt. Also frage ich mich: Warum sollte der bewusste Geist die Angst unterdrücken? 

SP: Das Werkzeug des bewussten Geistes ist die Analyse, die Fähigkeit, Dinge wiederzuerkennen. Diese Instrumente sind nicht geeignet, um mit der Angst umzugehen. 

K: Ich kann nicht mir ihr umgehen. Hier ist wahre Einfachheit gefragt, keine Analyse. Der bewusste Geist kann nicht mit der Angst umgehen, und deshalb sagt er sich: »Ich will ihr ausweichen, ich kann sie nicht anschauen.« Schau, was du tust. Du wartest auf eine Krise, welche die Angst erwachen lässt; und der bewusste Geist versucht ständig, die Krise zu vermeiden. Er weicht aus, zieht Schlüsse, findet Erklärungen und Rechtfertigungen. Wir beherrschen dieses Spiel meisterhaft. Deshalb sage ich mir: Wenn Angst da ist, ist sie wach.

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Man kann nicht etwas betäuben, das Teil unseres Erbes ist. Der bewusste Geist denkt nur, dass er die Angst betäubt hat. Der bewusste Geist ist erschüttert, wenn es zu einer Krise kommt. Geh deshalb anders mit der Angst um. Ist das richtig? Die Urangst ist die Angst vor dem Nichtsein, ein Gefühl totaler Angst, der Ungewissheit, ein Gefühl nicht da zu sein, zu sterben. Warum lässt der Geist diese Angst nicht zu und bewegt sich mit ihr? Warum sollte er auf eine Krise warten? Bist du einfach träge und hast deshalb nicht genug Energie, bis zur Wurzel des Problems vorzudringen? Ist das, was ich sage, irrational? 

PJ: Es ist nicht irrational. Ich versuche zu sehen, ob es stimmt.

K: Wir sagen, dass jedes Lebewesen Angst vor dem Nichtsein hat, davor, nicht zu überleben. Die Angst steckt uns im Blut. Unser ganzes Wesen hat Angst davor, nicht zu existieren, zu sterben, getötet zu werden. Die Angst vor dem Nichtsein ist also Teil unserer gesamten psychischen und biologischen Struktur, und ich frage mich, warum es eine Krise braucht, warum eine Herausforderung wichtig sein sollte. Ich lehne es ab, herausgefordert zu werden. Ich will der Herausforderung zuvorkommen, nicht hinterherhinken. 

PJ: Man kann nicht teilhaben, an dem, was du sagst. 

K: Warum nicht? Ich werde es dir zeigen. Ich weiß, dass ich sterben werde, dabei habe ich den Tod aber nur intellektuell betrachtet und erklärt. Deshalb trifft es nicht zu, wenn ich behaupte, mein Geist sei dem Tod weit voraus. Er ist nur im Denken voraus – und das ist nicht weit voraus. 

PJ: Nehmen wir ein aktuelles Beispiel. Man wird mit dem Tod konfrontiert und denkt, man sei einen Schritt voraus, doch beim Weitergehen erkennt man plötzlich, dass man überhaupt nicht voraus ist. 

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K: Das verstehe ich. All das ist das Resultat einer Herausforderung, ob sie nun gestern oder vor einem Jahr geschah. 

PJ: Die Frage ist also: Mit welchem Instrument, mit welcher Energie, von welcher Dimension aus sieht man – und was sieht man?

K: Ich will mich klar ausdrücken. Angst ist Teil unserer Natur, Teil unseres Erbgutes. Auf der biologischen und der psychischen Ebene haben die Gehirnzellen Angst vor dem Nichtsein. Und das Denken sagt: »Ich werde mir das nicht anschauen.« Wenn dann die Herausforderung auf das Denken zukommt, kann es die Angst nicht beenden. 

PJ: Was meinst du, wenn du sagst, das Denken sagt: »Ich will mir das nicht anschauen?« 

NM: Es will sich auch selbst anschauen. 

K: Das Denken kann sich nicht sein eigenes Ende anschauen. Es  kann es nur mit dem Verstand erklären. Ich frage euch: Warum wartet der Geist auf eine Herausforderung? Ist sie notwendig? Wenn ihr sagt, dass sie notwendig ist, dann wartet ihr darauf.

Die Wurzel der Angst



Die Wurzel der Angst – Teil 4

PJ: Ich sage: »Ich weiß es nicht.« Ich weiß nur, dass eine Herausforderung auftaucht, und dass die Angst auftaucht.

K: Nein, eine Herausforderung weckt die Angst. Bleiben wir dabei. Und ich frage dich: »Warum wartest du auf eine Herausforderung, damit die Angst geweckt wird?« 

PJ: Deine Frage ist paradox. Willst du damit sagen, dass du nicht auf die Herausforderung wartest, sondern die Herausforderung heraufbeschwörst?

K: Nein, ich bin gänzlich gegen Herausforderungen. Du missverstehst mich. Mein Geist wird nie eine Herausforderung akzeptieren. Man braucht keine Herausforderung, um aufzuwachen. Es ist einfach falsch zu sagen, dass ich schlafe und eine Herausforderung brauche, um aufzuwachen.

PJ: Nein, das sage ich ja nicht.

K: Also ist sie wach. Und was schläft? Der bewusste Geist? Oder schläft der unbewusste Geist? Und sind vielleicht nur einzelne Bereiche des Geistes wach? 

PJ: Wenn ich wach bin, bin ich wach.

NM: Lädst du die Angst ein? 

K: Wenn du wach bist, ist keine Herausforderung notwendig. Also lehnst du Herausforderungen ab. Wenn es, wie wir sagten, zu unserem Leben gehört, dass wir sterben werden, dann ist man immer wach. 

PJ: Nicht immer. Man ist sich der Angst nicht immer bewusst. Sie ist immer da, unter dem Teppich, aber man schaut sie sich nicht an. 

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K: Ich sage: Heb den Teppich hoch und schau. Sie ist da. Darum geht es mir. Sie ist da und sie ist wach. Es ist also keine Herausforderung nötig, um sie wachzurufen. Ich habe die ganze Zeit Angst vor dem Nichtsein, vor dem Sterben, davor, nichts zustande zu bringen. Das ist die grundlegende Angst in unserem Leben, sie liegt uns im Blut, und sie ist immer da, schaut zu, ist auf der Hut und schützt sich selbst. Aber sie ist sehr wach. Sie schläft nicht einen einzigen Augenblick. Deshalb ist keine Herausforderung notwendig. Wie du mit ihr umgehst und wie du mit ihr fertig wirst, ist eine andere Sache. Das kommt später. 

PJ: Das ist die Tatsache.

Achyut Patwardhan (AP): Wenn du all das siehst, akzeptierst du dann nicht den Faktor Unaufmerksamkeit?

K: Ich sagte, sie ist wach; ich spreche nicht von Aufmerksamkeit. 

NM: Die Angst ist aktiv, sie arbeitet in uns.

K: Sie ist wie eine Schlange im Zimmer, sie ist immer da. Ich kann in eine andere Richtung schauen, aber sie ist da. Der bewusste Geist überlegt, wie er damit fertig werden soll, und weil er nicht damit fertig werden kann, wendet er sich von ihr ab. Dann kommt eine Herausforderung auf ihn zu, und er versucht, sich dieser Herausforderung zu stellen. Kannst du etwas Lebendigem ins Auge sehen? Dazu ist keine Herausforderung notwendig. Aber weil der bewusste Geist die Augen vor der Angst verschließt, ist die Herausforderung notwendig. Ist das richtig, Pupul? 

NM: Wenn du daran denkst, ist sie nur ein Gedanke, und doch ist dieser Schatten im Bewusstsein.

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K: Verfolge die Spur, und ziehe keine voreiligen Schlüsse. Du ziehst voreilige Schlüsse. Mein Geist lehnt Herausforderungen ab. Der bewusste Geist wird nicht zulassen, dass Herausforderungen ihn aufwecken. Er ist wach. Aber du akzeptierst Herausforderungen. Ich nicht. Das liegt außerhalb meiner Erfahrung. Der nächste Schritt ist: Wenn der bewusste Geist der Angst gewahr ist, kann er nicht etwas einladen, das bereits da ist. Geh Schritt für Schritt weiter. Zieh nie voreilige Schlüsse. Der bewusste Geist weiß also, dass die Angst da ist – ganz wach. Was tun wir dann? 

PJ: Darin liegt Unzulänglichkeit.

NM: Ich bin wach. 

K: Ihr begreift nicht das Wesentliche. Es ist der bewusste Geist, der vor dieser Sache Angst hat. Wenn er wach ist, hat er keine Angst. An sich hat er keine Angst. Die Ameise hat keine Angst. Wenn sie zerquetscht wird, wird sie zerquetscht. Es ist der bewusste Geist, der sagt: »Ich habe Angst vor dem Nichtsein.« Wenn ich aber einen Unfall habe, mit dem Flugzeug abstürze, ist keine Angst da.

Im Augenblick des Todes sage ich: »Ja, ich weiß jetzt, was es heißt, zu sterben.« Aber der bewusste Geist mit all seinen Gedanken sagt: »Mein Gott, ich werde sterben, ich will nicht sterben, ich darf nicht sterben, ich werde mich schützen«; das ist das, was Angst hat. Habt ihr nie eine Ameise beobachtet? Sie hat nie Angst. Wenn jemand sie tötet, stirbt sie einfach. Jetzt seht ihr etwas.

NM: Habt ihr je eine Ameise beobachtet? Wenn man ein Stück Papier vor sie hält, weicht sie aus. 

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K: Sie will überleben, aber sie denkt nicht über das Überleben nach. Also kommen wir wieder zur Angst zurück. Das Denken erzeugt die Angst: Nur das Denken sagt: »Ich werde sterben, ich bin einsam, ich habe keine Erfüllung gefunden.« Seht euch das an: Das ist zeitlose Ewigkeit, das ist wirkliche Ewigkeit. Seht, wie außergewöhnlich das ist. Warum sollte ich Angst haben, wenn Angst Teil meines Wesens ist? Nur wenn das Denken sagt, dass das Leben anders sein soll, ist Angst da. Kann der Geist völlig regungslos sein. Kann er absolut stabil sein? Dann kommt dieses Etwas. Wenn dieses Etwas wach ist, was ist dann die Wurzel der Angst? 

PJ: Ist es dir je geschehen? 

K: Ja, mehrmals, viele Male. Wenn der Geist absolut stabil ist, nicht im Geringsten zurückschreckt, weder zustimmt noch ablehnt, weder Erklärungen sucht noch flüchtet, dann ist keine einzige Bewegung da. Wir haben die Wurzel der Angst erreicht, nicht wahr?

Die Wurzel der Angst
Die Wurzel der Angst